Bundesverband ukrainischer Wissenschaftler und Kulturschaffenden

Autor: Inna

Selig sind, die Frieden stiften,

In dem nachfolgenden Artikel geht es um die Evangelische Friedensethik wie sie in der Denkschrift unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) ausgeführt wird, genauer um die Frage, ob sie vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine noch zeitgemäß ist oder korrigiert werden muss. Zu dieser Frage gibt es innerhalb der „Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) mindestens drei unterschiedliche Auffassungen. Um diese Frage allerdings richtig zu beurteilen, braucht es

  1. eine Einordnung der Ausgangssituation.
  2. Schließlich geht es dann um die Grundlagen der Evangelischen Friedensethik,
  3. damit die Frage, wie sie auf die heutige Situation in der Ukraine zu beziehen sei, beantwortet werden kann.

Selig sind, die Frieden stiften,

denn sie werden Töchter und Söhne Gottes genannt werden

(Matthäus 5, 9)

Ausgangssituation

Am 23. Februar hat der Staatspräsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, in der Nacht auf den 24.02. eine Fernsehansprache gehalten, in der er die russische Bevölkerung über den bevorstehenden Überfall auf die Ukraine informierte. Der Krieg begann sodann um 06:00 Uhr Ortszeit des 24.02.

Auf die Argumente, mit denen der Krieg – im Putinschen Wortlaut „militärische Sonderaktion“ genannt – gerechtfertigt wurde, gehe ich nicht ein. Sie ist im Internet nachzulesen.

Der Krieg ist ein Angriffskrieg

  • und verletzt somit die Souveränität des ukrainischen Staates. Gegen dieses Recht verstieß die russische Staatsregierung bereits mit der Annexion der Krim.
  • Der Krieg verstößt gegen das Völkerrecht, Internationales Öffentliches Recht genannt, das sich auf die Charta der Vereinten Nationen beruft und mit dem dort rechtlich niedergelegten Gewaltverbot einen Angriffskrieg verbietet. Nach dieser Rechtsordnung hat die Ukraine das Recht der Selbstverteidigung.
  • Der Krieg verstößt gegen das Kriegsrecht. Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen (Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten …) sind verboten und gelten als Kriegsverbrechen. Dementsprechend haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Internationale Gerichtshof angeordnet, die militärischen Operationen sofort einzustellen. Am 02.03.2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution mit einer (historischen) Mehrheit von 141 Stimmen, die den Einmarsch in die Ukraine verurteilte und Russland zum sofortigen Rückzug seiner Truppen aufforderte.
  • Der Krieg verstößt gegen Menschenrechte. Dementsprechend hat am 08.03.2022 der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, um gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ermitteln. Anlass ist der Einsatz von Streubomben.

Evangelische Friedensethik

Hatte sich die Bundesregierung noch vor dem Beginn des Angriffskrieges geweigert, sich an den Waffenlieferungen der NATO-Staaten zu beteiligen, obwohl die Bedrohungslage akut war, so vollzog sie mit dem Beginn des Einmarschs in die Ukraine eine Kehrtwende. Sie beschloss

  • der Ukraine sofort Panzerabwehrwaffen zu liefern;
  • einen Sonderhaushalt von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr;
  • den Haushalt für Militärausgaben von 1,5 % auf 2% aufzustocken.

Wie lassen sich diese Maßnahmen politisch und theologisch-ethisch einordnen? Sind sie mit der „Evangelischen Friedensethik“ vereinbar oder muss diese angesichts der Kriegssituation überprüft werden, wie Annette Kurschus, ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen Deutschlands (EKD) und ehemalige Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, in einem epd-Interview vermutete? „Ich bin nicht der Meinung, wir müssten jetzt unsere Friedensethik über den Haufen werfen. Wir sollten sie aber einer kritischen Prüfung unterziehen und neu diskutieren. Die schmerzlichen Lernprozesse, die wir gerade durchleben, müssen sich in unserer Friedenethik niederschlagen. Es ist ein Kennzeichen protestantischer Ethik, dass dort nichts für alle Zeiten festgeschrieben ist, sondern dass wir sie weiterentwickeln können, wenn sich Situationen einschneidend verändern.“

Es gibt in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) mittlerweile mindestens drei unterschiedliche, fast schon kontroverse Auffassungen zur evangelischen Friedensethik im Zusammenhang mit dem russischen Krieg in der Ukraine.

  • Die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD und Präses der Ev. Kirche von Westfalen, Dr. hc. Annette Kurschus, urteilt in einem Interview mit dem Bremer „Weser Kurier“ am 14.04.22, dass die Erfahrungen mit dem Angriffskrieg Russlands „in die evangelische Friedensethik integriert“ werden müssten. Sie sieht hierbei die Waffengewalt zur Verteidigung als „Ultima Ratio“ sowie Waffenlieferungen durch am Krieg unbeteiligte Staaten als Unterstützung dieses Zieles. Waffenlieferungen sind für Annette Kurschus mit der Friedensethik vereinbar.
  • Demgegenüber lehnt der Friedensbeauftragte der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer von der Ev. Kirche in Mitteldeutschland, Waffenlieferungen ab. Die evangelische Friedensethik ist für ihn nicht veränderungsbedürftig.
  • Die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 sei eine gute Diskussionsgrundlage. Aber sie müsse aktualisiert werden, meint der evangelische Militärbischof in einer Veröffentlichung des Bundeswehr-Verbandes vom 30.05.22. „Manche idealistischen Vorstellungen … müssen sich an der Realität dessen, was jetzt als Aggressionskrieg durch Putin vollzogen wird, messen lassen …“

Drei unterschiedliche Positionen zur evangelischen Friedensethik. Um sie einordnen zu können, muss man wissen, worin sie besteht und welche Inhalte sie enthält.

Es folgt somit eine kurze Darstellung dessen, was hier „Evangelische Friedensethik“ genannt wird. Ich beginne mit dem

Gerechten Frieden als Leitperspektive einer christlichen Friedensethik

„Für die christliche Ethik stehen Friede und Gerechtigkeit in unauflöslichen Zusammenhang. Spätestens seit der Ökumenischen Versammlung der Kirchen, die 1988 in der DDR stattfand, gilt der ‚gerechte Friede‘ als Leitperspektive einer christlichen Friedensethik. Die im sog. ‚Konziliaren Prozess‘ für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung entwickelte Grundorientierung am ‚gerechten Frieden‘ korrigierte das während des Ost-West-Konflikts und unter den Bedingungen des nuklearen Abschreckungssystems in der nördlichen Hemisphäre vielfach vorherrschende Verständnis von Friedenspolitik als abrüstungsorientierter Kriegsverhütung, indem sie einerseits die Forderung des Südens nach globaler Verteilungsgerechtigkeit, andererseits den Schutz der Menschenrechte mit der Friedensaufgabe verband. Das Wort der katholischen deutschen Bischöfe von 2000 steht programmatisch unter dem Titel ‚Gerechter Friede‘ und profiliert ihn als kirchliches Leitbild. Auch die EKD hat in den Orientierungspunkten für Friedensethik und Friedenspolitik [erg. mit dem Titel] ‚Schritte auf dem Weg des Friedens‘ von 1994 und in der Zwischenbilanz ‚Friedensethik in der Bewährung‘ von 2001 diesen Begriff aufgenommen, allerdings bislang nicht systematisch entfaltet.“ (Das Zitat stammt aus der Denkschrift des Rates der EKD, „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“, 2007, Punkt 2.5 Vom gerechten Frieden her denken, 1. Abschnitt)

Die systematische Entfaltung erfolgt sodann in den nachfolgenden Abschnitten der Denkschrift. Sie soll nachfolgend kurz beschrieben werden.

Die Vorstellung eines „gerechten Friedens“ im Sinne einer christlichen Friedensethik hat ihre Wurzeln in der biblischen Überlieferung.

  • Doch Gottes Hilfe ist nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserem Land Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen und Gerechtigkeit und Friede sich küssen.“ (Ps 85, 10f)
  • Lass die Berge Frieden bringen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit.“ (Ps 72, 3)
  • Ps 9, 1-6
  • Schwerter zu Pflugscharen (Jes 2, 2-4 / Micha 4, 1-5)
  • Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein. (Jes 32, 17)
  • Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. Röm 14, 17)
  • U.a.m.

Die Vorstellung von einem „gerechten Frieden“ ist nicht das Ergebnis eines Fortschrittglaubens, sondern Kennzeichen des Reich Gottes. Kann sie aber mit diesem Horizont ein realistisches Leitbild für eine politisch anwendbare Ethik sein?

Das Reich Gottes ist unverfügbar, aber keinesfalls bedeutungslos. Es enthält eine ganzheitliche Vorstellung von einem Frieden = Schalom, das den Frieden der Menschen zu sich selbst, untereinander, zur Gemeinschaft und zu Gott umfasst. Ich bin mit mir im Reinen, mit meinem Nächsten und Fernen sowie mit Gott. Dieser Frieden setzt Gerechtigkeit voraus. Frieden und Gerechtigkeit bedingen einander und interpretieren sich gegenseitig. „Die Frucht der Gerechtigkeit wird gesät in Frieden für die, die Frieden stiften.“ (Jak 3, 18) Gerechtigkeit im biblischen Sinne wird verstanden als Kategorie einer sozialen Praxis der Solidarität, die sich vorrangig den Armen und Benachteiligten zuwendet. „Die ‚bessere Gerechtigkeit‘, von der in der Bergpredigt die Rede ist (Mt 5, 20), erfüllt sich letztlich im Gebot der Nächsten-, ja Feindesliebe; sie zielt auf eine soziale Praxis zunehmender Inklusion und universeller Anerkennung. Sie befähigt zur Achtung der gleichen personalen Würde jedes Menschen unabhängig von seinen Taten (und Untaten) und sie berücksichtigt zugleich die relevante Verschiedenheit der Einzelnen in ihren Lebensbedingungen und -äußerungen. Gerechtigkeit kommt hier als Tugend in den Blick, als eine personale Qualität und Haltung, die allerdings nicht aus sich heraus besteht, sondern sich einer göttlichen Zusage verdankt: als nichtselbstgerechte Gerechtigkeit (Röm 3, 28). Eine solche nichtselbstgerechte Gerechtigkeit ist darauf bedacht, auch berechtigte Ansprüche und Interessen des anderen zu berücksichtigen.“ (Denkschrift, Unterpunkt 2.5.1, 4. Abschnitt)

Was heißt das konkret? Hier einige wesentlichen Aspekte des „Gerechten Friedens“:

Gerechter Friede dient der menschlichen Existenzerhaltung und -entfaltung. Er ist Bestandteil der menschlichen Würde als Spiegel der Ebenbildlichkeit Gottes (Theologische Anthropologie). Die menschliche Würde enthält das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und bedarf darum

  • des Schutzes vor Willkür, Ungleichbehandlung, Diskriminierung sowie
  • der Ermöglichung selbstbestimmter Entfaltungsmöglichkeiten und
  • der Sicherung des materiellen und sozialen Existenzminimums.

Friede ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Er ist ein gesellschaftlicher Prozess

  • von abnehmender Gewalt
  • und zunehmender Gerechtigkeit – im Sinne einer politischen und sozialen Gerechtigkeit.

Innerstaatlich ist dieses Grundprinzip politisch realisiert durch die Entprivatisierung von Gewalt in Form des staatlichen Gewaltmonopols. Um das staatliche Gewaltmonopol vor Missbrauch zu schützen, wird es in demokratisch organisierten Staaten durch das Prinzip der Gewaltenteilung ergänzt. Zwischenstaatlich ist das Prinzip des Gewaltverbots in der UN-Charta verankert: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ UND GENAU GEGEN DIESE CHARTA VERSTÖSST DER RUSSISCHE ANGRIFFSKRIEG IN DER UKRAINE.

Der Prozess, Frieden in der Welt herzustellen und zu bewahren, Gewalt zu verhindern und Gerechtigkeit zu ermöglichen, bedeutet im internationalen Kontext, die Freiheit der Schwächeren zu schützen bzw. das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts zu ersetzen.

Soweit die grundsätzlichen Überlegungen zu einer evangelischen Friedensethik. Im Hinblick auf die aktuelle Diskussion zur Prüfung dieser Ethik gilt es, folgende Grundlinien zu beachten:

  • Krieg ist kein Mittel der Politik. Gewalt kann niemals ein akzeptabler Weg sein, vermeintliche Ansprüche durchzusetzen. Angriffskriege sind unbedingt zu ächten.
  • Stärke des Rechts statt Recht des Stärkeren. Die vermeintlichen Interessen von Nationen und Völkern können niemals das Selbstbestimmungsrecht von Menschen und Völkern ignorieren. Alle Nationen bedürfen der Einbindung in eine internationale und multipolare Friedensordnung.
  • Frieden ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Der bloße Nichtkrieg ist das absolute Minimum. Frieden im vollen Sinne ist ein vielschichtiger Prozess: Anerkennung von Sicherheitsinteressen, Förderung von sozialer Gerechtigkeit über Grenzen hinweg inclusive gerechter Teilhabe an Rohstoffen, vielfältige Begegnungen von Menschen im Rahmen von Tourismus, Austausch, Kultur, Sport und der Dialog der Religionsgemeinschaften.
  • Rechtserhaltende Gewalt als Ultima Ratio. Im Extremfall massiver Verletzung elementarer Menschenrechte kann der Einsatz rechtserhaltender Gewalt nicht ausgeschlossen werden. Dabei ist es selbstverständlich, dass militärische Aktionen niemals den Frieden sichern können, sondern friedensförderndes Handeln neu möglich machen müssen.

In der konkreten Betrachtung des gegenwärtigen Krieges bedeutet dies:

  1. Weil Krieg nicht Mittel der Politik ist, ist der Angriffskrieg der Russischen Föderation zu verurteilen.
  2. Weil das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten ethisch gilt und völkerrechtlich verankert ist, ist der Bruch des Völkerrechts zu verurteilen.
  3. Weil wir – der evangelischen Friedensethik gemäß – an einer internationalen Gemeinschaft festhalten, die auf Verständigung und Dialog setzt, ist die verlogene Propaganda nach innen und außen zu verurteilen.
  4. Die Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation sind anzuerkennen. Wir vermissen aber die politischen und diplomatischen Bemühungen der russischen Regierung, diese konstruktiv auf internationaler Ebene (UN-Sicherheitsrat) zu benennen und zu lösen.
  5. Weil die internationalen Rechtsordnungen zur Sicherung des Friedens in der Welt rechtsverbindlich sind – und auch von der russischen Regierung ratifiziert wurden -, ist der Rechtsbruch durch die russische Staatsregierung zu verurteilen.
  6. Weil die Würde des Menschen und die Menschenrechte als universales Recht gesichert und zu sichern sind, sind die kriegerischen Strategien, die gegen zivile und humanitäre Einrichtungen gerichtet sind, der Einsatz verbotener Waffen, Massaker, Vergewaltigungen … zu ächten. Die unmittelbar Verantwortlichen und Verantwortungsträger sind gerichtlich zu verfolgen und zu verurteilen.
  7. Weil die Friedensethik auch die Perspektive der Opfer und der Hilfe bedürftigen Menschen enthält, ist humane Hilfe zu leisten.
  8. Weil die Friedensethik das Recht auf Selbstverteidigung anerkennt, ist die Ukraine in ihren Möglichkeiten, dies zu tun – auch mit Hilfe von Waffenlieferungen am Krieg unbeteiligter Staaten, zu unterstützen.
  9. Diese Option rechtserhaltender Gewalt ist politisch abzuwägen. In der Vergangenheit geschah dies im Rahmen einer internationalen Rechtsebene, etwa durch ein UNO-Mandat, durchgeführt werden kann. Diese Möglichkeit entfällt leider, da Russland ein Mitglied im Sicherheitsrat der UNO ist, und diesen Weg verhindert.
  10. Aus diesem Grund müsste für die UNO als Organ und Rechtsträger internationaler Sicherheit überlegt werden, wie der Sicherheitsrat handlungsfähig gemacht werden kann. Müsste nicht ein Mitglied, das einen völkerrechtswidrigen Akt begeht, aus dem Sicherheitsrat ausgeschlossen werden?

Kommen wir vor dem Hintergrund der dargestellten Friedensethik und der hieraus gewonnenen Folgerung zurück zur Ausgangsfrage:

Ist die evangelische Friedensethik noch zeitgemäß?

Die Regierungen der NATO-Staaten setzen – vor dem aktuellen Hintergrund des russischen Angriffskriegs – wieder verstärkt auf das militärische Mittel der Abschreckung. Der „Evangelischen Friedensethik“ wird gar vorgeworfen, dieses Mittel in ihren ethischen Überlegungen nicht mit einbezogen zu haben und hierin naiv gewesen zu sein.

Mit diesem Argument wiederholt sich eine Diskussion, die in den 80- und 90-iger Jahren rund um den NATO-Doppelbeschluss geführt wurde. Es könnte sein, dass die Abschreckungspolitik zu einer 76-jährigen Atempause in Europa und einem „Gleichgewicht der Mächte“ geführt hat. Doch der Frieden in der Welt ist – wie die bisherigen regionalen Kriege beweisen, an denen die Großmächte beteiligt sind, um ihren politischen und militärstrategischen Einfluss zu bewahren oder gar zu erweitern – nicht durch die Strategie der militärischen Abschreckung dauerhaft zu garantieren. Im Gegenteil: Durch die nukleare Aufrüstung unter Umgehung des Atomwaffensperrvertrages in diktatorisch regierten Staaten ist diese Strategie nahezu lebensgefährlich. Der Frieden kann nur politisch gesichert werden.

Im Rahmen einer Friedensethik stellen sich daher nachstehende und zu beantwortende Fragestellungen:

Für die gegenwärtige Situation in der Ukraine sind Waffenlieferungen zur Verteidigung eines völkerrechtswidrigen Angriffs und Überfalls ethisch gerechtfertigt. Dabei ist immer wieder abzuwägen – und auf internationaler Ebene mit der Ukraine abzustimmen –, welche Waffen zur Verteidigung aktuell benötigt werden.

Allerdings können Waffenlieferungen zur Unterstützung militärischer Verteidigung nicht das alleinige Mittel zur Rückkehr zu einem Waffenstillstand sein! Welche friedensfördernden Maßnahmen können internationale Vereinigungen und Sicherheitsbündnisse in Europa und der Welt über militärische Abschreckungsstrategien hinaus zum Ausgleich von nationalen Sicherheitsinteressen anbieten? Wie sind die Beziehungen zu Russland wieder neu aufzubauen? Wie gehen wir mit politischen Feindbildern um?

Wie auch immer die friedensethischen Antworten ausfallen mögen: Es wird uns Christen nicht gelingen, Antworten zu finden, die zu ethisch verantwortbaren Lösungen führen, an denen wir uns nicht schuldig machen. Mit der ethisch legitimierbaren Waffenunterstützung machen wir uns mitschuldig am Tod ukrainischer und russischer Menschen; mit einem radikalen Gewaltverzicht machen wir uns schuldig an dem gewaltsamen Untergang des ukrainischen Staates und den sich hieraus ergebenden Folgen an der ukrainischen Bevölkerung.

Zuletzt einige wenige Überlegungen zum

Feindbild

Feindbilder sind Bestandteil der Gewalt. Sie müssen zwar nicht zur Gewaltanwendung führen, sind aber die Voraussetzung dafür, Gewalt gegen Feinde anzuwenden. Um Gewalt einzudämmen, muss somit auch das Feindbild in die ethischen Überlegungen miteinbezogen werden. Als ethisches Vorbild kann eine Aussage des Menschen Jesus von Nazareth in der Bergpredigt gelten: nämlich auch „seine Feinde zu lieben“ (Mt 5, 44).

Zum Thema „Feindbild“ fand ich einen Artikel in „Zeit-Online“ von Armin Nassehi. Er trägt die Überschrift „Die Rückkehr des Feindes“. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. In seinem Artikel widmet er sich der Demokratie als Feind und Bedrohung für Putins Geschichtsphilosophie. Interessant an dieser Betrachtung ist zweierlei:

Der Blick nach außen, der Putin als diktatorischen Alleinherrscher betrachtet, der Freiheitsrechte einschränkt oder gar nicht erst zulässt und der – sehr wahrscheinlich – die Ukraine angreift, weil er die dort wachsende Entwicklung zu einer demokratischen Gesellschaft befürchtet, sowie der Blick nach innen, der sich mit unserem Verständnis von Demokratie befasst.

Ich beginne mit dem Blick nach innen: mit unserem Demokratieverständnis. Nach Armin Nassehi habe sich dieses zu einem Anspruchsverhältnis für Versorgung, angemessene Entscheidungen und Problemlösungen bei Störungen entwickelt. „Bleiben diese Lösungen aus oder stellen sie sich nicht sofort sichtbar ein, wird schnell das gesamte ‚System‘ infrage gestellt. In der Pandemie, in der Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden mussten, in der die Wirkung von Maßnahmen zeitverzögert erfolgte, in der viele Fehler gemacht worden sind und die auch die Grenzen politischer Steuerung geradezu überdeutlich vorgeführt hat, wurde etwas sichtbar, was die westliche Demokratie schon länger kennt: Sie selbst wird gar nicht politisch wahrgenommen, sondern eher als eine Art Dienstleister, dem der Konsument das Vertrauen entzieht, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Wenn sie nicht stimmen, wird dann dem gesamten Anbieter das Vertrauen entzogen – und dann ist der Vorwurf einer ‚Diktatur‘ oder eines willkürlichen Umgangs mit den Eingriffen nicht fern. Und solche Dinge hört man nicht nur auf Demonstrationen von Spinnern, sondern bis in den Kampagnen – und Haltungsjournalismus einschlägiger Zeitungen.“ Ich ergänze: Das gilt auch für etliche Sendeanstalten, den sog. sozialen Medien und manchen Parteien. Demokratische Freiheiten werden gleichgesetzt mit Individualismus und Egoismus. Selbstbestimmung und soziale Erwartungen, subjektive Rechte und soziale Ordnung befinden sich in einem Ungleichgewicht. Sie miteinander wieder zu versöhnen, wäre die Aufgabe, die bevorsteht, Demokratie zu bewahren. Es braucht wieder einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs zur Frage, was Demokratie ist und bedeutet. Evangelische Theologie kann hierzu mit ihrer Lehre vom Menschen, der Lehre von christlicher Freiheit sowie ihrer Lehre vom Leib Christi und der hieraus folgenden Priesterschaft aller Gläubigen einen wichtigen Beitrag leisten.

Der Blick nach außen richtet sich auf die autokratischen und diktatorischen Staatensysteme. Sie sind generell demokratiefeindlich, denn ihre Hierarchien vertragen keine Elemente demokratischer Teilnahme. Dies allein reicht aus, für diese Staatensysteme ein Feindbild zu entwickeln. Wenn – wie im Fall des russischen Überfalls auf die Ukraine – ein Staat, der sich demokratisiert, militärisch bedroht wird mit dem Ziel, ihn zu vernichten, weitet sich das Feindbild aus. Es kommt zu vereinfachenden und verzerrten Wahrnehmungen. Die Medien sprechen z. B. von Putins Krieg. Das heißt, der Krieg wird personalisiert und die Schuld stilisiert. Welche Gründe zur Eskalation beigetragen haben, kann nicht mehr wahrgenommen werden.

Die Vorstellung eines „gerechten Friedens“ auf der Basis einer für alle gleichen personalen Würde hingegen beinhaltet einerseits die Anerkennung kultureller Verschiedenheit und damit andererseits den Versuch, Ressentiments, Vorurteile und Feindbilder abzubauen.

Feindbilder enthalten bewusst gesteuerte Vorurteile und Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und langlebige Mythen, die immer wieder reaktiviert werden können. Mythen und Legenden zu widerlegen, ist schwierig und oftmals nicht möglich. Und doch sind sie falsch. Feindbildern gegenüber bedarf es einer gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung, aber auch der entschiedenen Aufklärung.


Günther Krüger (*26.10.1955) ist Pfarrer im Ruhestand. Nach seiner Lehre zum kaufmännischen Angestellten im Groß- und Außenhandel und einer zweijährigen Tätigkeit im Edelstahlbereich studierte er in Bielefeld und Göttingen Theologie und Philosophie. Von 1987-2015 war er Gemeindepfarrer in Herdecke und Dorsten. Heute koordiniert er die Veranstaltungen des „Evangelischen Gesprächsforums in Witten“.

Seit 2021 organisiert das „Evangelische Gesprächsforum in Witten“ Veranstaltungsreihen zu aktuellen Themen im Kontext des „Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Schon in den frühen 80-iger Jahren wurde betont, dass für alle drei Entwicklungen ein Not wendender Zusammenhang besteht.

Seit dem 24. Februar 2022 befasst sich das Forum mit der Situation in der Ukraine in Form von Gedenkveranstaltungen und Vorträgen sowie den ethischen Voraussetzungen bundespolitischer Entscheidungen im Horizont einer „Zeitenwende“. Hierzu gehört ein Vortrag zur „Evangelischen Friedensethik“ im Oktober 2021, der für die Veröffentlichung auf der Homepage von „Europa Grenzenlos e.V.“ als Artikel überarbeitet wurde.

DIE FALLE DES PAZIFISMUS DER BLUTENDEN HERZEN

von Myroslav Marynovych

Zuallererst eine Erinnerung. In den frühen 1980er Jahren waren christliche Märsche für den Frieden in Westeuropa sehr beliebt. Was könnte für Christen logischer sein als der Kampf für den Frieden? Doch diese Märsche hatten einen bösen Anstifter: die Sowjetunion, die nicht in der Lage war, wirtschaftlich mit dem Wettrüsten Schritt zu halten, und die eine Atempause und Entspannung anstrebte.

Viele europäische Christen zogen es vor, das dahinter stehende Kalkül nicht zu sehen: Für sie war der Kreml ein Verfechter des Friedens und somit ein Verbündeter der christlichen Friedensarbeit. Die paradoxe Situation zwang eine Gruppe politischer Gefangener des Gulags (darunter auch den Autor dieser Zeilen), die in Einzelhaft gesteckt worden waren, nur weil sie am Ostermorgen gebetet hatten, sich an Papst Johannes Paul II. zu wenden, um ein Wort der Warnung vor einem blinden Pazifismus zu erhalten:

„Eure Heiligkeit, es ist schwierig für diejenigen, die auf verschiedene Weise gegen das apokalyptische Böse in seiner Hochburg angetreten sind, die Bedeutung der christlichen Demut zu verstehen. Wir können und wollen dem Kaiser nicht geben, was von Rechts wegen Gott gehört. Die meisten von uns sehen den Sinn ihres Lebens darin, der Welt die wahre Natur der klappernden sowjetischen „Taube“ zu offenbaren, die die atomare Keule schwingt. Ist den Teilnehmern an den Ostermärschen im Westen, die so aktiv von der kommunistischen Propaganda unterstützt werden, bewusst, dass in jenen Apriltagen in den sowjetischen Konzentrationslagern Gefangene, die den Heiligen Geist suchten, von denselben kommunistischen Behörden in Einzelhaft gehalten wurden? Wir bitten Sie, Eure Heiligkeit, sie darüber zu informieren.“

Seitdem sind vierzig Jahre vergangen, und das politische Szenario hat sich verändert, aber die Umstände haben viele friedliebende Europäer auf ihre alten Positionen zurückgebracht. Ihre Philanthropie und ihr Wunsch nach Frieden um jeden Preis bergen eine Gefahr, denn ein gerechter Frieden wird nicht um den Preis der Verleugnung der Wahrheit, um den Preis einer ethischen Niederlage erreicht. Denn hinter den Kulissen einer aufrichtigen, wenn auch oft naiven Friedensförderung ist wie in der Vergangenheit der Kreml wieder sichtbar, der sich nun als kluger Verfechter eines „Friedens ohne Vorbedingungen“ ausgibt, ohne seine unveränderten völkermörderischen Absichten auch nur wirklich zu verbergen.

Diese Pazifisten nehmen ein wichtiges Paradoxon nicht zur Kenntnis: Das ukrainische Volk, das am meisten unter dem Krieg leidet und den Frieden am dringendsten braucht, lehnt aus irgendeinem Grund einstimmig einen Kompromiss mit Russland ab, der den Verlust von Gebieten und die Einschränkung seiner Souveränität bedeuten würde.

Worin besteht also der Fehler dieses europäischen Pazifismus?

Mir ist klar, dass eine politische Antwort nicht viel Sinn machen wird: Sie wurde mehr als einmal wiederholt, aber sie wird auch weiterhin nicht überzeugen. Wir sollten also nach anderen Argumenten suchen. Der Pazifismus stützt sich zumindest formal auf christliche Argumente. Ist das immer richtig? Was haben die Christen, insbesondere die ukrainischen Christen, dazu zu sagen?

 Der evangelische Imperativ, Frieden zu schaffen

Ist es wirklich unbestreitbar, dass Jesus in seiner Bergpredigt einen unmissverständlichen Imperativ formuliert hat: „Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ (Mt 5,9)? Es scheint, dass wir daraus schließen sollten, dass der Friede über allem anderen steht. Aber tragen alle Aktionen für den Frieden dazu bei, den Frieden Gottes zu schaffen?

Lassen wir einen ehemaligen Hierarchen der ukrainischen Kirche zu Wort kommen, der zwei Weltkriege überlebt hat, nämlich den Metropoliten von Galizien Andrej Šeptyc’kyj (1865-1944):

„Jeder sollte verstehen, dass ein Frieden, der die Bedürfnisse des Volkes nicht berücksichtigt und in dem sich das Volk beleidigt fühlt, was es ja auch ist, überhaupt kein Frieden wäre, sondern die Ursache für neue und schlimmere Komplikationen und gegenseitigen Hass, der zu neuen Kriegen führen würde“ (1).

Auch zeitgenössische ukrainische Theologen und Denker geben den christlichen Pazifisten eine überzeugende Antwort:

„Der Friede ist eine Folge der Ordnung Gottes… Der Friede ist nicht die Abwesenheit von Krieg, sondern ein positiver Begriff mit eigenem Inhalt… Der Friede Gottes ist nicht mit dem Bösen vereinbar! Man kann nicht die Sünde dulden und vom Frieden Gottes sprechen. Der Friede Gottes ist immer die Frucht des Verzichts auf das Böse und der Vereinigung mit Gott. Zu dieser klaren Entscheidung ruft uns Jesus mit den Worten über die Spaltung auf (Lk 12,51). Entweder stehen wir auf der Seite Gottes oder wir haben uns für die Seite des Bösen entschieden“ (2).

„Die Herrscher, die der Finsternis angehören, schaffen eine Welt voller Bosheit, Falschheit und Ungerechtigkeit. In einer solchen Welt kann es keinen wahren Frieden geben, und Versuche, diese Herrscher zu besänftigen, werden nicht die gewünschten Ergebnisse bringen… Deshalb müssen die Christen einen Frieden predigen, der auf Wahrheit und Gerechtigkeit beruht: ‚Das ist es, was ihr tun sollt: Redet einander die Wahrheit, urteilt in euren Toren, die wahrhaftig sind, und stiftet Frieden‘ (Sach 8,16) (3).“

Deshalb duldete Jesus die Sünde, die im Sanhedrin seiner Zeit lauerte, nicht und prangerte sie öffentlich an, obwohl er wusste, dass diese Anprangerung ihm nichts Gutes bringen würde. Er lehnte den Dialog mit dem Sanhedrin nicht ab, bestand aber darauf, dass dieser Dialog in der Wahrheit geführt werden sollte. Daher rührt auch seine eindeutig nicht-pazifistische Haltung: „Glaubt nicht, dass ich gekommen bin, um Frieden auf Erden zu bringen. Ich bin nicht gekommen, Frieden auf die Erde zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34).

Weder die Demokratien der Welt noch die Kirche können einen Frieden gutheißen, der die Aggression zu einem wirksamen Mittel macht, um sich die Territorien anderer anzueignen. Nur ein gerechter Friede ist ein dauerhafter Friede. Wie Roberta Metsola, Präsidentin des Europäischen Parlaments, sagte: „Frieden ohne Freiheit und Frieden ohne Gerechtigkeit ist kein Frieden“.

Eine evangelische Entscheidung zugunsten von Werten

Je mehr Kriegsverbrechen Russland in der Ukraine begeht, desto mehr Gewicht bekommen ethische Argumente bei der Bewertung der Ereignisse. Deshalb müssen die Demokratien der Welt das berühmte Dilemma „Sicherheit versus Werte“ richtig lösen.

Ich bin mir bewusst, dass dieses Dilemma nicht einfach zu lösen ist, aber es ist unmöglich, nicht anzuerkennen, dass die Welt mindestens acht Jahre damit verschwendet hat, den Aggressor zu beschwichtigen. Dieser scheinbare Pazifismus birgt eine gefährliche Falle: Das Ignorieren von Werten führt zu derartigen Verletzungen im Leben der Welt, dass genau das in Gefahr gerät, was geschützt werden soll, nämlich die Sicherheit. Und das wird uns immer wieder bestätigt: Heute sind wir dem dritten Weltkrieg näher als 2014.

Je mehr Politiker die Werte ignorieren, indem sie dem Aggressor ungerechte Zugeständnisse machen, desto arroganter wird dies und desto unsicherer werden wir. Und es war Jesus selbst, der uns davor gewarnt hat: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer es aber verliert, wird es erhalten“ (Lk 17,33). Deshalb hat er seine Werte nicht geopfert, nicht einmal um den Preis seines eigenen Lebens.

Daraus schließe ich, dass wir kein wirksames Sicherheitssystem – d.h. einen gerechten Frieden – aufbauen können, indem wir die Werte verzerren oder ignorieren.

Eine evangelische Warnung vor Ethnizismus

In Zeiten des Krieges werden Menschen, die von seinen Tragödien entsetzt sind, instinktiv zu Pazifisten. Vor dem Hintergrund dieses spontanen Pazifismus kann die Ukraine, wie ich bereits erwähnt habe, als „Kriegspartei“ erscheinen. Als ob man sagen wollte: Könnt ihr nicht damit aufhören und einen Teil eures Territoriums an Russland abtreten, damit dieses endlose Blutvergießen aufhört? Nun, mit bitterer Ironie möchte ich daran erinnern, dass sogar unser Präsident Volodymyr Zelensky anfangs ein solcher Pazifist war. Er war es, der seine Präsidentschaft mit dem zweideutigen Satz einleitete: „Um den Krieg zu beenden, müssen wir aufhören zu schießen.“ Doch am 24. Februar 2022, dem Tag des massiven russischen Angriffs, zog er sein berühmtes grünes Militär-T-Shirt an, weil er begriff, dass Putin ihm keine andere Wahl gelassen hatte: Der Kreml will die Ukraine als Staat und das Ukrainische als Identität zerstören.

Doch es scheint, dass christliche Pazifisten gerade gegen dieses Verständnis konzeptionelle Vorbehalte haben. Für sie riecht dieses Verständnis nach Nationalismus und führt daher zu Feindseligkeit. Außerdem sind in ihrer Vorstellung die Grenzen des Staates und der nationalen Identität wandelbar und daher austauschbar.

Wieder einmal finden wir in der Heiligen Schrift einen scheinbar eindeutigen Imperativ: „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist weder Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Es ist kein Geheimnis, dass die Ostkirche in der Geschichte oft durch übermäßigen Ethnizismus gesündigt hat. Und sie sündigt auch heute noch darin. Warum also sollten sich unsere Pazifisten nicht offiziell gegen den Ethnizismus der Lehre von der „russischen Welt“ wenden, die von der russischen Kirche übernommen wurde und die nicht nur eine übertriebene Lehre ist, sondern sogar kriminell geworden ist, da sie den Einsatz von Waffen heiligt, um alle Russischsprachigen gewaltsam in einem einzigen Staat zu vereinen? Gibt es nicht vielleicht eine direkte Analogie zur verbrecherischen Nazi-Doktrin?

Aber nein: Die europäischen Pazifisten sehen nicht die Häresie der offiziellen Doktrin der russisch-orthodoxen Kirche. Sie sehen auch nicht die Gerissenheit des Kremls, der die Warnung von Clausewitz vergisst: „Der Invasor ist immer friedfertig. Er will so ‚friedlich‘ wie möglich erobern.“ Stattdessen betrachten sie mit Misstrauen das offensichtliche Opfer dieses Krieges, das seine nationale Identität und seinen souveränen Staat schützen will.

Hat sich Jesus vielleicht immer geweigert, die Nationalität zu betonen? Nein. Er selbst sagte: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24). Das Schlüsselwort hier ist jedoch nicht „nur“, sondern „verloren“. In der Tat: „Was meint ihr denn? Wenn ein Mensch hundert Schafe hat und eins von ihnen hat sich verirrt, lässt er dann nicht die neunundneunzig auf den Hügeln zurück und geht hin, um das eine zu suchen, das sich verirrt hat?“ (Mt 18,12).

Es ist also gerade die Todesgefahr, die dem Opfer droht, die den Christen das moralische Recht gibt, eine „Entscheidung zugunsten des Opfers“ zu treffen. Und die Beispiele sind zahllos. Schon in der Neuzeit flog John F. Kennedy, geleitet von dieser Logik, ins belagerte West-Berlin und erklärte: „Ich bin ein Berliner!“ Warum also kann die Führung der Gemeinschaft Sant’Egidio heute nicht nach Kiew kommen und in Solidarität erklären: „Ich bin ein Ukrainer!“?

Aber hier lauert ein weiteres Hindernis für das Verständnis dieses Konflikts. Es ist oberflächlich zu sagen, dass die Ukrainer keinen Frieden wollen, weil sie Nationalisten sind. Die Ukrainer, auch die russischsprachigen, kämpfen nicht nur für ihre territoriale Integrität, sondern für menschliche Werte, gegen den Autoritarismus und die Aufzwingung einer ganzen Lebensweise, die wir uns seit dem Ende der Sowjetära erkämpft haben, einen Krieg für das Recht, frei zu sein. All dies als „Nationalismus“ zu bezeichnen, ist nur ein Spiel derjenigen, die ein imperiales und totalitäres System wieder aufbauen wollen. Um die Lebendigkeit und Offenheit der Debatte innerhalb der ukrainischen Zivilgesellschaft und den Versuch zu verstehen, die Tragödie des Krieges in eine Chance für einen neuen gesellschaftlichen Konsens zu verwandeln, der die Grundlagen einer echten Demokratie stärkt, empfehle ich dringend die Lektüre von „Eine neue Geburt für die Ukraine: A Constitutionalist Manifesto“.

Der moralische Charakter des Krieges

Ich war nicht der erste, der auf ein anderes wichtiges Problem hingewiesen hat, nämlich das Problem der Symmetrie in der Darstellung des russisch-ukrainischen Krieges. Die Regeln der „politischen Korrektheit“ verleiten viele Europäer dazu, beide Seiten als politisch und moralisch gleichwertig zu behandeln, wobei sie die tatsächlichen Umstände ignorieren und sich damit selbst zu einer ethischen Niederlage verdammen. Diese Niederlage ist durch die Tatsache vorprogrammiert, dass sich der russisch-ukrainische Krieg grundlegend von dem militärischen Konflikt in Mosambik unterscheidet, wo die Gemeinschaft Sant’Egidio seinerzeit eine wichtige „friedenserhaltende“ Funktion ausübte. Der gegenwärtige Krieg in Osteuropa ist in der Tat ein Nullsummen-Identitätskonflikt, der nicht nach dem Prinzip der Gleichheit gelöst werden kann. Es ist unmöglich, den Wunsch der Ukrainer, ihre Freiheit und staatliche Unabhängigkeit zu bewahren, mit dem Wunsch Russlands, den Ukrainern ihren Staat zu nehmen und sein Imperium wiederzubeleben, in Einklang zu bringen. In dieser Situation ist es unmöglich, neutral zu bleiben. Stattdessen muss man sich für die Werte entscheiden: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24).

Kurzum, es scheint, dass die Worte von Bischof Desmond Tutu vergessen wurden: „Wenn man sich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhält, hat man sich auf die Seite des Unterdrückers gestellt.“

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(1) Metropolit Andrej Šeptyc’kyj, „Dokumente und Materialien 1899-1944“, Lviv, ARTOS Verlag, Bd. 3. „Hirtenbriefe 1939-1944“, 2010, S. 290.

(2) Pater Yurii Ščurko. „25. Woche nach Pfingsten. Mittwoch. Wahrer Friede (Lukas 12,48-59)“.

(3) „Sehnsucht nach der Wahrheit, die uns frei macht“.

FRIEDENSAPPELL UKRAINE: FÜR EINE BESSER INFORMIERTE SOLIDARITÄT

VON UKRAINISCHEN ORGANISATIONEN DER ZIVILGESELLSCHAFT MIT PAZIFISTISCHEN UND FRIEDENSFÖRDERNDEN BEWEGUNGEN WELTWEIT

  1. Wir, ukrainische Aktivisten der Zivilgesellschaft, Feministinnen, Friedensaktivisten, Mediatoren, Dialogvermittler, Psychotherapeuten, Menschenrechtsaktivisten und Akademiker, erkennen an, dass eine wachsende strategische Divergenz weltweit dazu geführt hat, dass bestimmte Stimmen auf der Linken und der Rechten sowie unter Pazifisten für ein Ende der militärischen Unterstützung der Ukraine plädieren. Sie fordern auch einen sofortigen Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland als Strategie zur „Beendigung des Krieges“. Diese Aufrufe zu Verhandlungen mit Putin ohne Widerstand sind in Wirklichkeit Aufforderungen zur Aufgabe unserer Souveränität und territorialen Integrität.
  2. Wir fordern nichts Geringeres als die uneingeschränkte Achtung des international vereinbarten humanitären Rechts und der Menschenrechte sowie der UN-Charta; und die praktischen Mittel, um uns selbst, unsere Volkssouveränität und unsere territoriale Integrität zu verteidigen und uns den expansionistischen und imperialistischen Versuchen des Kremls zu widersetzen, seine Nachbarn erneut zu kolonisieren. Ja, wir brauchen Diplomatie, und ja, wir brauchen humanitäre Hilfe, aber täuschen Sie sich nicht, die Ukraine muss weiterhin mit modernen Waffen und anderer militärischer Hilfe unterstützt werden, ebenso wie mit strengen wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen den Kreml.
  3. Ein Stopp der Waffenlieferungen an die Ukraine würde nicht zu „Frieden mit friedlichen Mitteln“ führen, sondern Putins autoritärem Regime die Möglichkeit geben, seine Aggression gegen die Ukraine fortzusetzen. Es ist ein gefährlicher Aufruf zum Appeasement  Wir haben dokumentiert, wie der Kreml Kriegsgefangene und Zivilisten in den besetzten Gebieten behandelt. Wir haben gesehen, wie er mit der legitimen politischen Opposition im eigenen Land umgeht. Das ist kein Frieden. Wir glauben, dass eine starke Verteidigung und ein nachhaltiger Widerstand mit einer beständigen und informierten weltweiten Solidarität für das ukrainische Volk in einem so radikal asymmetrischen Konflikt der beste Weg zu einem Beendigung der Gewalt und einem verhandelten Rückzug der russischen Streitkräfte ist.
  4. Die Besetzung ukrainischer Gebiete durch Russland zu akzeptieren und dem Angreifer damit Straffreiheit zu gewähren würde einen gefährlichen Präzedenzfall für andere autoritäre Regimes schaffen, die internationale Grenzen verändern wollen. Es würde auch zu einer Zunahme der weltweiten Verbreitung von Atomwaffen führen, da es anderen die destruktive Vorstellung vermitteln würde, dass der Besitz von Atomwaffen die einzige Garantie für die eigene Sicherheit ist.
  5. Wir fordern, dass internationale Organisationen und Bewegungen das Recht der Ukrainerinnen und Ukrainer respektieren, an vorderster Front mitzubestimmen, wie sie ihren Frieden machen und wie sie sich und ihre Rechte verteidigen können. Wir fordern, dass unsere Forderungen nach Einbeziehung respektiert werden und dass es bei der Bestimmung unserer Zukunft «nichts über uns ohne uns» geben sollte. Wir lehnen Konferenzen und Märsche für «Frieden in der Ukraine» ab, bei denen die Ukrainer weder sinnvoll beteiligt noch fair vertreten sind.
  6. Wir finden es zutiefst beleidigend, wenn auf der rechten und linken Seite behauptet wird, ukrainische Soldaten würden als Stellvertreter des Westens kämpfen. Dieses Argument spricht uns unsere Menschlichkeit ab und schmälert die Geschichte der Ukraine, die ihre Unabhängigkeit hart erkämpft hat, sowie die Legitimität der Entscheidung des Volkes für seine demokratisch gewählte Regierung. Dies ist eine irreführende und schädliche politische Rhetorik. Der Einmarsch Russlands und die illegale Annexion von Teilen der Ukraine im Jahr 2014 waren das Ergebnis russischer Aggression und russischen Expansionismus und keine Reaktion auf eine glaubwürdige Bedrohung.
  7. Wir begrüßen die fortgesetzte internationale Vermittlung und Vermittlungsunterstützung für humanitäre Verhandlungen, in denen der Rückzug Russlands, der Austausch von Kriegsgefangenen, die Rückkehr deportierter ukrainischer Kinder, die Beseitigung der nuklearen Bedrohung und der freie Transport von Getreide gefordert werden. Diese sind enorm wichtig und sollten aufrechterhalten und weiter ausgebaut werden.
  8. Wir bitten die internationale Gemeinschaft um mehr Verständnis und informierte Solidarität. Dies sollte mit einem Überdenken der bestehenden Ansätze und der Entwicklung einer neuen Vision der Friedenssicherung auf internationaler Ebene mit gegenseitigem Respekt, Verständnis für die Besonderheiten des Konflikts, Unterstützung und Erhaltung von sozialer Bindungen und Netzwerke im Interesse von Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie.
  9. Wir glauben, dass mit Ihrer Unterstützung die russische Besatzung überwunden werden kann und Russland diesen grausamen und illegalen Zermürbungskrieg verlieren und für alle seine Verbrechen auf dem Territorium der Ukraine zur Rechenschaft gezogen werden wird. Wir sind uns bewusst, dass Solidarität einen Preis hat, und dieser Preis wird von vielen getragen. Wir entscheiden uns dafür, in einer Welt zu leben, in der Menschenleben zählen, in der Demokratie zählt, in der internationales Recht zählt, und wir werden den Kampf für die Welt, die wir uns für unsere Kinder wünschen, nicht aufgeben.
  10.  Wir danken der internationalen Gemeinschaft dafür, dass sie uns zur Seite steht und diesen schmerzhaften Preis für den Frieden mit uns teilt.



Andreas Umland und Hugo von Essen
Was Moskau die atomwaffenfreie Staaten gelehrt hat*

Eine der gefährlichsten und weitreichendsten Folgen der nunmehr offenen Aggression Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022 ist die weitere russische Untergrabung des Atomwaffensperr- beziehungsweise Nichtverbreitungsvertrags. Dieser 1968 entstandene mulilaterale Pakt zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearsprengköpfen und waffenfähigem Nuklearmaterial ist eines der wichtigsten internationalen Abkommen der Menschheit. Spätestens seit Anfang 2014 haben Moskaus antiukrainische Aktionen die Logik des Atomwaffensperrregimes auf den Kopf gestellt.

Der 2014 zwar noch verdeckte, aber bereits damals massive militärische Eingriff Russlands in die Ukraine betraf ein Land, das einst über Kernwaffen verfügte, diese aber im Zuge ihres Beitritts zum Atomwaffensperrvertrag 1994 aufgegeben hatte. Der nur notdürftig kaschierte russische Angriff auf die Ukraine erweckte bereits vor neun Jahren den Eindruck, der Zweck des Abkommens bestehe darin, schwache Länder wehrlos und zur Beute offizieller Kernwaffenstaaten zu machen. Der russische Präsident Wladimir Putin illustrierte diesen Sachverhalt, als er sowohl 2014 als auch 2022 verkündete, dass die Nuklearstreitkräfte seines Landes in Alarmbereitschaft versetzt seien. Putin und seine Gefolgsleute drohten und drohen unverhohlen jedem, der es wagt, sich Russland in den Weg zu stellen, mit einem Atomschlag.

In den frühen 1990er Jahren verfügte die neue, unabhängige Ukraine kurzzeitig über mehr Atomsprengköpfe, als Großbritannien, Frankreich und China zusammengenommen. Die Ukraine erbte von der Sowjetunion etwa 1.900 strategische und 2.500 taktische Atomwaffen, die auf ihrem Territorium stationiert waren. Vor dem Hintergrund der Tschоrnobyl-Katastrophe 1986 und im Geiste des weltpolitischen Optimismus der ersten Jahre nach Ende des Kalten Krieges entschied Kyjiw jedoch, dass die Ukraine vollständig atomwaffenfrei wird.

Freilich konnte die ukrainische Armee zu dieser Zeit einen Großteil der verbliebenen Atomwaffen ohnehin nicht einsetzen, da sich die Kommandozentralen der Raketen in Moskau befanden. Allerdings verfügte die Ukraine damals nicht nur über eine Vielzahl verschiedener Sprengköpfe, sondern auch über spezialisierte Industriekapazitäten, wissenschaftliche Forschungsinstitute und technisches Know-how, die sie hätte nutzen können, um ein kleiner Atomwaffenstaat zu werden. Sie hätte etwa einen Vorrat an angereichertem Uran oder Plutonium beziehungsweise womöglich sogar Kernwaffen und Sprengköpfe behalten können. Auf Druck Moskaus und Washingtons übergab Kyjiw jedoch sein gesamtes waffenfähiges Nuklearmaterial an Russland. Die Ukraine unterzeichnete und ratifizierte den Atomwaffensperrvertrag als offizieller Nichtnuklearstaat.

Außerhalb des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) haben nur Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan eigene Nukleararsenale. Ihren Waffenvorräte sind jedoch deutlich geringer als die der fünf Staaten, denen der Besitz von Atomsprengköpfen im NVV ausdrücklich erlaubt ist: Großbritannien, China, Frankreich, Russland und die Vereinigten Staaten, die auch ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags ist er noch weitgehend intakt. Mit seinem Angriff auf die Ukraine seit 2014, seiner Eroberung und Annexion immer neuer ukrainischer Territorien sowie seiner anhaltenden Terrorkampagne gegen die ukrainische Zivilbevölkerung hat der Kreml die Logik des Nichtverbreitungsregimes ad absurdum geführt.

Die Sicherheitszusagen für die Ukraine durch die Atomwaffenstaaten im Budapester Memorandum der USA, Russland, Großbritannien und der Ukraine sowie die parallelen chinesischen und französischen Regierungserklärungen von 1994 haben sich für Kyjiw als nutzlos erwiesen. Vor dem Hintergrund des russischen Verhaltens seit 2014 sieht es nun so aus, als ob der Zweck des NVV darin bestehe, den fünf offiziellen Atomstaaten, die auch zu den stärksten konventionellen Militärmächten der Welt gehören, die Möglichkeit zu geben, ihre Staatsterritorien zu erweitern. Sie können dies auf Kosten kleinerer Länder tun, die naiverweise an die Herrschaft des Völkerrechts glauben und den NVV als Nichtkernwaffenstaaten unterzeichnet haben.

Sollte Russland aus seinem heutigen Krieg mit der Ukraine mit einem territorialen Gewinn herauskommen, wäre dies nicht nur für Kyjiw fatal. Es dürfte das Ende des derzeitigen internationalen Sperrregimes zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bedeuten. Etliche Länder ohne Kernwaffen beziehungsweise ohne enge atomwaffenbesitzende Bündnispartner würden aus dem Schicksal der Ukraine ihre eigenen Schlussfolgerung ziehen. Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass nicht Völkerrecht und internationale Organisationen sowie Solidarität, sondern nur der Besitz eigener Massenvernichtungswaffen zuverlässig staatliche Grenzen, Integrität und Souveränität sichert.Hugo von Essen und Andreas Umland sind Analysten am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale

Andreas Umland, BUWK
Hugo von Essen

Kostyantyn Sigov: „Der Schatz des ukrainischen Widerstands soll  Europa aufwecken“

Konstantin Sigov, BUWK

Stimmen aus der Ukraine

In einem langen Interview mit Le Figaro spricht der französischsprachige ukrainische Politikphilosoph über die Tragödie seines Landes, beschreibt das „nationale Erwachen aus der Tiefe“, das es den Ukrainern ermöglicht, der russischen Aggression Widerstand zu leisten. Er erklärt, dass „es eine echte Chance gibt, die Agonie von Putins Macht und die Entstehung echter Veränderungen im europäischen Ethos mitzuerleben“, wenn die europäische Solidarität wächst. Es ist die „Vereinigung des ukrainischen Widerstands und der europäischen Solidarität“, die die russische „imperiale Besessenheit“ überwinden wird, aber diese Chance könnte verloren gehen, wenn wir auf halbem Weg stehen bleiben, um Putins kriminelles Regime zu besiegen. Der Westen wurde zu der Annahme verleitet, Russland habe 1991 mit dem Stalinismus gebrochen. Die Verbrechen des Putinismus und des Kommunismus müssen verurteilt werden, um aus der „sowjetischen Tragödie, die seit 1917 andauert“, herauszukommen.

Interview von Laura Mandeville

Sie haben Ihr Leben Ideen gewidmet. Sie sind in Kiew geboren. Und heute informieren Sie von der Ukraine aus Europa und die Welt über den Widerstand Ihres Volkes. Erzählen Sie uns davon.

Ich bin hier mit meiner 93-jährigen Mutter, meinem Bruder und meinem Sohn. Jeden Abend gehen wir in den Keller runter. Und jedes Mal frage ich meinen Sohn Roman, der mit internationalen Journalisten im Frontbereich arbeitet, wo er die Nacht verbringen wird. Gestern schlief er zwischen den Büchern in der Diele, weg von den Fenstern. Dieses Gebäude befindet sich in der Nähe des Fernsehturms zwischen Babyn  Yar, wo die Rakete einschlug, und der U-Ban- Station  Lukyanivska. Ich bemerkte, dass es vielleicht besser wäre, in der U-Bahn zu schlafen, deren Station sehr tief liegt. Am 24. Februar brachten wir Sandsäcke an der Außenseite der Fenster an und stapelten innen Bücher vor den Fenster. Ich hoffe, Sie brauchen in Paris keine Sandsäcke, aber hier retten sie Leben. In der Nähe befindet sich die Sophienkathedrale, die ist ein Jahrhundert älter als die Kathedrale Notre Dame: In den 1930er Jahren wollte Stalin sie abreißen.

Jeden Tag fragen wir uns, ob eine Bombe in die Hagia Sophia und ihre Mosaiken aus dem 11. Jahrhundert einschlagen wird…Auf meiner Facebook-Seite gibt es ein Foto der Mosaik von Oranta: das Bild der Muttergottes, die ihre Hände gen Himmel streckt. Der wunderbare ukrainische Kulturphilosoph Serhiy Krymsky machte darauf aufmerksam, dass die Geste von Oranta die Geste von Moses ist, der seine Hände hoch streckt, damit Israel den Kampf mit den Amalekitern nicht verliert. Gleichzeitig helfen Aaron und Gur ihm, die Hände hoch zu halten … Die Europäer müssen zusammen mit den Ukrainern die Hände hoch halten. Unsere Hände werden müde, aber wir müssen durchhalten. Denn eine grundsätzliche Frage wird derzeit geklärt: entweder wird die „sowjetische Tragödie“, die 1917 begann, enden und wir werden der wiederwachten imperialen neosowjetischen Wut einen Riegel vorschieben, oder wir werden für Jahrzehnte erneut in ihr versinken. In den 1990er Jahren gab es keinen Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit.

Wir Europäer waren zu naiv. Wir dachten, wir könnten auf einen Nürnberger Prozess gegen den Kommunismus verzichten, trotz der Warnungen von Dissidenten wie Volodymyr Bukovsky und Mustafa Dzhemilev. Das Ausbleiben einer gerichtlichen Verurteilung von Kommunismus bereitete den Boden für eine Rückkehr zum Stalinismus und Putinismus. Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse ist ein Gerichtsverfahren, in dem Frankreich, das Heimatland des Menschenrechtsschutzes, aufgerufen ist, eine aktive Rolle zu spielen. Nur so kommt es nicht zu emotionalem Revanchismus. Wir fordern Fairness und Gerechtigkeit.

Putin warnt  „Volksverräter“, dass sie „gesäubert“  werden. Dies ist eine Rückkehr zum Wesen des Stalinismus.

Eine Bewegung in Richtung Gewalt und Vergangenheit findet statt, weil Putins Regime keine wirklichen Hindernisse hatte. Um die Verbrechen des Putinismus zu beurteilen, ist es notwendig, eine klare Einschätzung des Stalinismus abzugeben, was die Arbeit der Organisation „Memorial“ war. Die offizielle Schließung von „Memorial“ im Dezember signalisierte das Herannahen des Krieges. Aber selbst Putins eigene Terminologie über Verräter verrät, was Putin befürchtet. Schließlich war er es, der sein Volk und die ganze Menschheit verraten hat!

Im vergangenen Jahr blieb ein Ereignis in der Ukraine nicht unbemerkt: der 700. Todestag von Dante. Olga Sedakova machte auf die 33 Lieder der „Göttlichen Komödie“ aufmerksam, in denen Dante eine Szene aus der Hölle beschreibt, in der Menschen während eines Festes essen, trinken und Kleidung tragen. Aber ihre Seelen sind bereits in der Hölle! Sie haben also ein so schreckliches Verbrechen begangen, dass nichts Menschliches mehr in ihnen war. Das sehen wir bei Putin. Eines Tages wird er vor Gericht stehen, und das Gericht wird seine persönliche Verantwortung beweisen, die er für die gesprengten Gebäude in Moskau im Jahr 1999 trägt, die den zweiten Krieg in Tschetschenien provozierten, für die Art und Weise, wie die Kriege im Kaukasus geführt wurden, für die Ermordung von Anna Politkowskaja und anderer Oppositioneller und Konkurrenten und später für den Einmarsch in die Ukraine. Dieses Gericht wird der Welt einen Serienverbrecher zeigen. Die Frage ist, wann wird diesem Übel ein Ende gesetzt?

Präsident Biden nennt Putin einen Kriegsverbrecher. Er ist jedoch immer noch an der Macht.

Niemand kann vorhersagen, wie lange dieses Regime andauern wird. Aber selbst 2014, während der Maidan-Revolution, wusste niemand, dass der Diktator irgendwann fliehen würde. Es geschah, weil Diktatoren nicht allmächtig sind, auch wenn sie uns das weismachen wollen! Wir wissen nicht, wann die Selbstzerstörung des Bösen stattfinden soll. Aber diese Zeit wird kommen. Wie bei einem Mobiltelefon: dort hat der Akku auch nur eine begrenzte Ladekapazität. Die Erkenntnis, dass es diese Grenze gibt, hilft uns, der Angst, die zu falschen Entscheidungen führt, eine Barriere zu errichten.

Es gibt Menschen in Russland, die auch davon träumen, diesem Regime ein Ende zu setzen. Sehen Sie sie als Waffenbrüder, trotz des Krieges gegen die Ukraine?

Wir dürfen die Kernthese nicht aufgeben, dass dieser Kampf nicht nur unser, sondern auch der der anderen ist. Denn diese These mobilisiert den Geist der Vernunft und jene menschlichen Eigenschaften, die das Putin-Regime zerstören will. Jeder, der offen erklärt, dass er gegen Krieg ist, ist ein Verbündeter der freien Welt. Ich weiß, dass es Menschen in Russland gibt, die das 2014 getan haben, als die meisten Russen „Die Krym gehört uns“ skandierten. Sie sagten, es sei ein Verbrechen gegen das Völkerrecht und die Annexion. Ja, meine Heimatuniversität, die Kyiv-Mohyla-Akademie, verlieh dem Historiker Andriy Zubov, der den Krieg verurteilte, sowie der Literaturnobelpreisträgerin Svitlana Aleksiyovych den Ehrentitel Doctor Honoris Causa.

Aber Ihre Frage hat noch eine andere Seite, die wir nicht ausklammern dürfen. Dies ist eine intellektuelle Falle, in die oft  die russische Intelligenz gerät, die Kultur und Politik voneinander trennt. Relevant ist die Geste von Thomas Mann, der Nazideutschland aus Protest  gegen das Böse verließ. Schließlich haben wir noch nicht gewonnen. Wenn ein Dirigent sich weigert, den Krieg zu verurteilen, sollte es ihm unter diesem Gesichtspunkt meines Erachtens nicht gestattet werden, seine Konzerte zu organisieren.

Sprechen Sie über die Schlüsselrolle der moralischen Position jeder Person?

Dieser Schlüsselmoment für den postsowjetischen und im weiteren Sinne für den europäischen Raum wird den Übergang zu einem neuen Ethos bedeuten, das uns dazu verleiten wird, die Notwendigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, nicht von kulturellen Aktionen zu trennen. Die berühmte Schriftstellerin Nadiya Mandelshtam beeindruckte einst viele sowjetische Intellektuelle mit dem kategorischen Ton, mit dem sie über die „Kannibalen“, „Verbrecher“ des stalinistischen Regimes sprach, die  ihren Ehemann getötet hatten. Sie sagte, dass es unmöglich ist, einem ethischen Gericht zu entkommen, egal, wie virtuos das Lied vorgetragen wird. Nadiya Mandelstam verstand, dass die Versuchung der russischen Intelligenzia darin bestand, zu sagen: Ja, wir haben Osip Mandelstam getötet, aber wir können auch die Verdienste des Regimes loben – also, Orwells „Doppeldenken“  zu übernehmen.

Werden wir Zeugen der letzten Zuckungen des russischen Kaiserdrachens?

Ja, das imperiale Paradigma bricht hier in der Ukraine zusammen. Aber nur wenige Russen sind bereit, das zuzugeben. In Vercors Buch „Das Schweigen des Meers“ begegnet ein deutscher Offizier der französischen Kultur mit Respekt, er glaubt nicht, dass die Kultur Goethes höher sei, als die der Franzosen. Das fehlt den Russen wegen der imperialen Arroganz, die sogar viele von denen haben, die gegen den Krieg sind und uns unterstützen. Es ist schwer, russische Intellektuelle zu finden, die versuchen, Geschichte der ukrainischen Kultur zu studieren, unsere Literatur kennenzulernen, die Stimmen der Völker zu hören, die unter dem Imperium gelitten haben, abgesehen von der Stimme ihres  eigenen. Das Ende des Imperiums kann nur kommen, wenn sie Interesse an anderen Nationen zeigen, wie es Dissident Andriy Sacharov oder General Petro Grigorenko taten. Wir müssen verlangen, dass sie den Krieg verurteilen und die begangenen Fehler anerkennen. Aber das erste, was getan werden muss, ist, zuerst den Krieg zu beenden und dann die Schuldigen an  begangenen Verbrechen vor Gericht zu stellen. Während Verbrechen begangen werden, müssen wir gemeinsame kulturelle Projekte aufgeben, einen historischen Bruch machen, wenn wir auf Reue hoffen wollen.

Wenn wir den Krieg beenden, wird dieses Regime nach einem Ausweg suchen.

Wir müssen eine demokratische Ukraine bewahren, und deshalb muss die Bombardierung ihrer Städte aufhören. Aber das ist die erste Stufe. Dann müssen wir den Putinismus besiegen. Denn die wirkliche Sicherheit von Paris und Kiew wird erst gesichert, wenn dieses kriminelle Regime fällt. Um den Krieg zu beenden, müssen wir natürlich ohne Fetischismus verhandeln und uns vor falschen Positionen hüten. Alle demokratischen Länder werden Opfer bringen müssen, damit die Demokratie gewinnt. Wir werden bescheidener leben müssen, ohne russisches Gas. Aber wir werden unsere eigenen Länder mehr respektieren, wenn wir diesen schwierigen Weg gehen. Am Vorabend der Revolution auf dem Maidan erweckte Kiew den Eindruck einer amorphen Gesellschaft, was alle ärgerte. Wir waren noch unzufriedener als heute die Franzosen mit ihrem Staat unzufrieden sind. Daher war das nationale Erwachen für alle eine große Überraschung. Es zeigte sich, dass jede freie Gesellschaft, auch wenn sie unter Hypnose steht, in ihrem Inneren Ressourcen in sich birgt, die wie unterirdische Flüsse lange Zeit in der Tiefe verbleiben und dann plötzlich am helllichten Tag an die Oberfläche heraustreten  und alle überraschen, nicht nur Diktatoren wie Viktor Janukowitsch und Wladimir Putin.

2014 haben wir plötzlich begriffen, dass wir eine Republik sind, dass wir vereint sein können wie nie zuvor, wir haben unsere Nachbarn besser kennengelernt, es hat ein kompletter Perspektivwechsel stattgefunden. Und heute wird er wiederholt. Einst wurden die „pro-russischen“ Bürgermeister von Charkiw und Odessa verächtlich kritisiert, aber jetzt sind sie mit den besten Patrioten zusammen, sie sind standhaft wie Felsen.

Was nennt Hannah Arendt den „verborgenen Schatz des Widerstands“? In Frankreich existierte dieser Schatz auch während der Résistance, und er könnte zurückkehren. Wir haben es 1968 in Prag und 1956 in Budapest gesehen. Diese Eigenschaft, die für jedes europäische Land charakteristisch ist, manifestiert sich, wenn es um Leben und Tod geht! Wussten Sie, dass mehr als 800 Kinder, darunter 12 Zwillingspaare, in Kiew unter den Bomben geboren wurden? Heute spüre ich körperlich die unglaubliche Kraft des Lebens, einen Widerstand, der nicht aufzuhalten ist. Das ist Bergsons Elan vital. Jeder kann Churchill werden. Die Europäer vergaßen den Geschmack der Freiheit, sie hatten die Illusion, dass es eine Selbstverständlichkeit sei. Aber mit diesem Krieg müssen sie verstehen, dass Freiheit unbezahlbar ist.

Die Frage nach der Wahrheit ist zentral. Im Westen, wo es einen freien Zugang zu Informationen gibt, haben sich dennoch viele von Putins Propaganda täuschen lassen.

Dies ist die Schlüsselfrage. Putins Propagandamaschine war in der Tat darauf bedacht, jeden Wunsch nach Wahrheit zu Hause und in Europa im Keim zu ersticken. Wir hören, dass es von beiden Seiten Propaganda gibt: Das ist eine typische Putin-Methode, um zu demonstrieren, dass es keine Wahrheit gibt. Aber lassen Sie mich Sie daran erinnern, dass es eine radikale Asymmetrie gibt: Russische Zivilisten wurden nicht angegriffen. Bürger der Ukraine, Frauen, Kinder und ältere Menschen sterben. Die Wahrheit ist sehr verletzlich, weil alles getan wurde, um sie zu zerstören, um in der „Post-Wahrheit“ zu leben. Ein Ausdruck davon ist das Phänomen Schröder (der ehemalige deutsche Bundeskanzler, der in den Vorstand von Gazprom berufen ist) oder das Phänomen der Fortsetzung der Aktivitäten französischer Unternehmen in Russland trotz des Krieges. Aber in einigen slawischen Sprachen bedeutet das Wort „Wahrheit“ auch „das Recht, das Gesetz“. Wenn Putin und sein Team die Wahrheit ablehnen, tun sie das, weil sie unter Bedingungen der Willkür leben wollen. Im Westen denken viele, dass es nicht so ernst sei, dass es die Grundlagen des Rechts nicht bedrohe.  Sie verstehen nicht, dass die Zerstörung der Wahrheit ein Orkan ist, der alles hinwegfegt, weil er Willkür und Gesetzlosigkeit zur Norm werden lässt. Die Wahrheit ist dagegen, dass jemand geschlagen oder gefoltert wird. 

Ich habe kürzlich mit einem Philosophen gesprochen, der für sein gesellschaftliches Engagement   bekannt ist, Igor Kozlovsky, der 700 Tage im Donbas im Gefängnis verbrachte und von Separatisten gefoltert wurde. Jeder in Mariupol oder Cherson kann sich heute in einer solchen Situation wiederfinden.

Wir Ukrainer sind zum physischen Körper geworden, der die spirituelle Verbindung zwischen Wahrheit und Gesetz bezeugt. Wenn wir die Wahrheit verlieren, verlieren wir das Recht auf Leben, auf Würde. Wir werden versklavt.

All dies bringt mich zurück zu der These: Europa  als die letzte Utopie, die das Thema von Dominic Waltons Buch ist. Die Verwundbarkeit dieser Utopie liegt in ihrer tiefen Zweideutigkeit. Denn die EU war sicherlich ein Magnet, der Ungarn, Tschechien, Polen und andere Länder anzog. Aber das war ein narzisstischer Moment. Es gab einen blinden Fleck, denn die Europäer waren sich einig, dass die ehemalige UdSSR nach anderen Regeln lebte. Sie glaubten, dass sie in der gleichen Ära wie die ehemalige UdSSR lebten, aber in unterschiedlichen Räumen, aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Wir leben im selben Raum, aber in unterschiedlichen Epochen, denn drei Flugstunden von Paris entfernt kann man bombardieren und foltern. Die historische Zeit ist anders. Aber das ist unser europäischer Raum! In diesem Bereich haben einige Länder den Demokratietest nicht bestanden und konnten die Tyrannei von Putin und Lukaschenka nicht loswerden. Die Tatsache, dass wir diesen Anachronismus zugelassen haben, bedeutet, dass wir dafür verantwortlich sind.

Aber haben die Europäer das verstanden? Wir haben gesehen, wie sie 1989 als Beginn der Postgeschichte interpretierten, sie begannen, sich zu entwaffnen!

Das stimmt, aber mir scheint, dass wir ab dem 24. Februar Zeugen einer radikalen Neubewertung dieser europäischen Utopie werden. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Kernkraftwerke Tschernobyl und Zaporizhzhya, aber auch Kiew und Charkiw, Europa sind, und wir müssen den Stier bei den Hörnern packen und verstehen, dass wir diese Tragödie nur gemeinsam stoppen können. Wir müssen unsere Prioritäten überdenken. Die größte Herausforderung besteht darin, dass es in der unmittelbaren Nähe zu unseren  Grenzen einen kriminellen Staat gibt, der nur drei Flugstunden von Paris entfernt mit dem Morden begonnen hat. Alles ist in unserem einen Raum verbunden.

Aber wie kann man dieses Regieme zum Fall bringen? Inwieweit können Informationen dieses Regime erschüttern? Wird die Ukraine eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung der Wahrheit in Russland spielen?

Die freiesten russischen Massenmedien sind seit langem in Kiew. Eines der Hauptelemente sollte es sein, zu sagen, dass es eine Grenze und einen Feind gibt: ein Regime, das uns zerstören will. Man muss zugeben, dass die De-facto-Grenze der europäischen Demokratie durch die Ostgrenze der demokratischen Ukraine verläuft. Nur so kann man Russland von der imperialen Versuchung befreien, den heißen Köpfen der russischen Regierung klar machen, dass hier Russlands Grenze ist.

Denn ohne die Ukraine wird Russland gezwungen sein, sich von seinem imperialen Phantom zu verabschieden. Dann wird diese Grenze diejenige sein, die es Russland wiederum ermöglicht, sich von dem zu befreien, was der Putinismus geschaffen hat. Wir hatten uns keinen Isolationismus gewünscht. Aber wir lehnen die freiwillige Blindheit gegenüber dem Bösen ab. So muss der von Frankreich erlaubte Verkauf militärischer optischer Ausrüstung an Russland nun gestoppt werden. Denn wir leben in dunklen Zeiten, wie Hannah Arendt sagte. Wir werden uns neu orientieren müssen, damit wir gemeinsam in die Freiheit gehen: wir beide, und du, und sie. Freiheit ist unteilbar, aber man kann sich nicht mehr täuschen lassen.  

Wie ist die Unterstützung von Putins Krieg durch Millionen Russen zu erklären?

Einer der angesehensten russischen Philosophen, Anatoly Akhutin, schrieb kürzlich, dass die Hauptantriebskraft hinter Putins Machtmaschine der moralische Verfall der russischen Gesellschaft sei. Sie wurde  lange Zeit mit Fernsehpropaganda einer Gehirnwäsche unterzogen, und heute richtet sich Putins Machtmaschine  gegen dieEuropäer. Wenn es funktioniert, wird sie sie einschüchtern, sie kaufen … Das bedeutet, dass Sie sich nicht in der Politik engagieren können, ohne eine ethische Komponente zu berücksichtigen , denn wir sprechen von einer kriminellen Macht, die unendlich gefährlicher ist als die Mafia, mit der Erfahrung der drei Generation in der Ausnutzung aller repressiven Machthebel des FSB und der Armee.  

Daher das absolute Missverständnis von „Realisten“, die eine „Realpolitik“ fordern … 

Sie verwenden diesen „Realismus“, weil sie davon ausgehen, dass sie geschützt sind, während die europäische Szene bereits die Titanic ist. Dieses falsche Sicherheitsgefühl, das die Europäer denken lässt, dass die Vereinigten Staaten ihre Sicherheit garantieren, während sie sie dafür hassen, funktioniert nicht mehr. Wenn wir weiter in dieser Illusion leben, wird die Sicherheit von einem Diktator garantiert, der sklavische Unterwürfigkeit verlangt. Wir befinden am Rande eines Abgrunds.  Es ist entscheidend, zu verstehen, wie man sich gemeinsam verteidigt. Es besteht eine reale Chance, dass in Europa Veränderungen eintreten,  und wir werden die Agonie der derzeitigen russischen Regierung miterleben, denn politisch und zivil hat Putin diesen Krieg bereits verloren. Aber das war vom Anfang an klar. Es besteht aber auch die reale Gefahr, dass Feigheit, Trägheit und Missverständnisse den Europäern die Chance nehmen, die der ukrainische Widerstand bietet. Ukrainischer Widerstand und europäische Solidarität können gemeinsam der russischen imperialen Besessenheit ein Ende bereiten.

Für BUWK übersetzt von Yevgenia Komarova

Quelle:  Le Figaro

Allianz Ukrainischer Organisationen appelliert an Bundeskanzler Scholz und Verteidigungsminister Pistorius

Allianz Ukrainischer Organisationen appelliert an Bundeskanzler Scholz und Verteidigungsminister Pistorius

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

sehr geehrter Herr Minister Pistorius,

Bitte, liefern Sie die dringend notwendigen Kampfpanzer an die Ukraine. Bitte, verhindern Sie nicht die Lieferungen von Kampfpanzer und notwendigen Waffen ihrer Partner an die Ukraine.

Russland bleibt bei seinem Ziel – die totale Vernichtung der Ukraine.

Tag für Tag zerstört die russische Armee die zivile und kritische Infrastruktur der Ukraine, tötet vorsätzlich die Zivilbevölkerung, begeht Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Über acht Jahre führt Russland seinen Krieg gegen die Ukraine. Über zehn Monate begeht Russland die grausamen Menschenrechtsverbrechen und führt seinen genozidalen Krieg gegen die Ukraine vollumfänglich fort.

Menschen in der Ukraine leisten Widerstand, um das eigene Land zu verteidigen. Die Ukraine kämpft um das Überleben. Die Befreiung der durch Russland vorübergehend okkupierten Gebiete u.a. in der Region Kyjiw, Charkiw und Cherson sind überzeugende Beweise dafür, dass die ukrainische Armee mit ausreichender und richtiger Ausrüstung das eigene Land und Menschen verteidigen kann.

Die Ukraine kämpft nicht nur um ihre eigene Existenz. Die Ukraine kämpft für einen nachhaltigen und gerechten Frieden in Europa, der nur mit Hilfe von Verbündeten wieder hergestellt werden kann. Deutschland hat die Macht und Mittel, die Ukraine zu unterstützen. Sie haben die Entscheidung, ob die Ukraine dazu in der Lage sein wird.

Wir appellieren an Sie, verehrter Bundeskanzler und verehrter Bundesminister, zögern Sie nicht mit Ihren Entscheidungen. Bitte, hören Sie auf Ihre Bündnispartner:innen, die auch an Sie appellieren, die Ukraine mit Waffen schnellstmöglich und effektiv zu unterstützen.

Mit freundlichen Grüßen

Allianz Ukrainischer Organisationen

Presseanfragen bitte an: info@ukr-alliance.de

Mariana Sadovska Rede bei einer Lesung in der Reihe „Kultur im Kanzleramt“

Sadovska im Bundestag

Mariana Sadovska Rede bei einer Lesung in der Reihe „Kultur im Kanzleramt“

28.03.2022

Vielen Dank, dass ich hier sprechen darf. Ich tue das im Namen all der ukrainischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die heute nicht hier sprechen können, weil sie Ihr Land, ihr Leben, Ihre und unsere Freiheit verteidigen. Ja, auch unsere hier.

Francis Fukuyama schreibt in der letzten Woche, dass ein Sieg der Ukraine über die russische Armee nicht nur den Imperialismus Putins stoppen würde, sondern den Glauben an die liberalen Demokratien wieder stärken würde, die durch Putin, Erdogan, Bolsonaro, Trump und co. unter Druck geraten sind.

„Was macht denn die Ukraine aus?“ „Sind Ukrainer anders als Russen?“ „Ist Ukrainisch eine eigene Sprache?“ Immer wenn ich in den letzten Jahren müde wurde, diese Fragen zu beantworten, sprang mein deutscher Mann für mich in den Ring: „Die Ukraine ist die geilste Demokratie im post-Sowjetischen Raum!“ und „Sie ist das spannendste Nation-Buildingprojekt, das Europa je hatte: Die Ukraine ist multi-national, multi-lingual, und multi-religiös.“ Sie sei eigentlich Europa par exellence: Einheit in der Vielfalt. „Wir müssen sie endlich eigenständig, und unabhängig von Russland denken. Post-kolonial eben.“ So sagt er.

Gestern gab es in Berlin zwei Veranstaltungen zur Ukraine: Im jüdischen Museum haben jüdische MusikerInnen aus Deutschland und der Ukraine eine Perspektive entwickelt, die sich aus der Erfahrung des Terrors der Shoah ableitet. Zur gleichen Zeit musizierten unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten im Schloss Bellevue ein russischer Dirigent, ein russischer Pianist und ein russischer Bariton russische Komponisten, im Beisein von Ehrengästen und Fernseh-Teams. Das Feigenblatt dieser Veranstaltung bildeten zwei Werke des ukrainischen Komponisten Walentyn Sylvestrow, während russische Bomber ukrainische Städte und Zivilisten bombardierten. Wie viel Zynismus und Bigotterie müssen wir noch ertragen?

Ja, wir haben auch ein Recht auf Forderungen, nicht nur auf Mitleid. Wir wurden in unserer Geschichte schon zu oft zum Objekt degradiert. Diese Zeit ist jetzt vorbei.

Ich zitiere Serhij Zhadan: „Dieser Krieg soll uns vernichten. Im Falle einer Niederlage, verlieren wir nicht nur Teile unseres Territoriums, wir verlieren unsere Zukunft, wir verlieren uns selbst.“

Wenn Sie die Menschen in der Ukraine fragen, wie man ihnen helfen kann, dann antworten sie wie aus einem Mund: „Helft uns dabei, dass wir uns verteidigen können.“

Nach einem Solidaritäts-Konzert habe ich ein Paket von einer deutschen Familie erhalten, mit Nachtsichtgeräte und Tarnkleidung. Und einen Brief:

„Wir hoffen sehr, dass unsere Politiker endlich die Energieimporte aus Russland stoppen. Was bringen all die Sanktionen, wenn wir weiterhin jeden Tag Millionen Euro an Putin zahlen? Und ich zahle gerne auch 3 Euro für den Liter Diesel, wenn ich dadurch nur ein einziges ukrainische Kind retten kann. Außerdem hoffen wir, dass die Nato sich bald zur Einrichtung einer Flugverbotzone durchringt. Natürlich haben wir große Angst, dass dadurch alles eskaliert und es zu einem Atomkrieg kommt und die ganze Welt untergeht.

Aber wir können doch nicht so einer Verbrecher wie Putin davonkommen lassen, nur weil er mit der Atombombe droht.

Wenn die Welt unter geht, weil wir der Ukraine helfen, dass soll es halt so sein!“

28.03.22 Berlin

Mariana Sadovska
Kateryna Babkina

„Der gestiefelte Kater“

Das sind meine Felder, meine Gärten.
Meine Burgen, meine Weiten,
meine Weiden an den Wassern,
meine Fische in den Buchten.

An den Trassen die Äpfel und Pflaumen,
Hopfen, der grünt, die reifenden Trauben,
alles ist mein: die Igel im Kraut
die Schnitter fluchend im Korn.

Mein ist der Sternenstaub und der Staub in den Gräbern,
der Wunder sieben und vierzig, Atomkraft und Hydroturbinen,

Rauch von Weihrauch und brennenden Wäldern,
und die Nebel schwebend über Flüssen und Seen.
Mir gehören die Hänger und Mähmaschinen,
der saure Fabriksschweiß, das Fieber zur Ernte.

Dämmerlicht senkt sich auf meine Höfe
und meine Weiber stimmen dort Lieder an.
Meine Grenzen sind das, meine Junkies,
meine Fusel und meine Schnäpse
und meine Söhne in den Bäuchen,
schwimmend in Träumen von Emigration.

Es sind meine Begeisteten, die täglich
begeistert preisen den Namen des Herrn.
Das ist mein Land. Und der ganze Scheißdreck
in diesem Land gehört ebenfalls ganz allein mir.

Was willst du von mir, du harte Welt?
Was machst du mich klein?
Ich bin doch auch eine feste Burg, eine fette Beute,
und mein listiges Herz gab ich dir.

Lockere die Faust, auf den Dingen von Himmel und Erde
ändre die Weisung und Richtung.
Wo, ach wo verbirgst du die, die einfach nur so
und ohne das alles mich nimmt.

aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten, 2014

Kateryna Babkina 1985 in der Ukraine geboren. Sie studierte Internationale Journalistin in Kyiv und arbeitet seither als freie Journalistin. Sie schrieb Kolumnen u.a. Die Zeitung Le Monde und das Magazin Focus

Мар‘яна Садовська. Провома у Канцлерамті

28.03.2022

Вельми вдячна за надану мені можливість виступити тут. Я роблю це від імені всіх українських письменників та письменниць, які не мають можливості виступити, бо вони захищають свою країну, своє право на життя, свою та нашу свободу. Так – і нашу, європейську, також!

«Що то за країна така – Україна? Чим відрізняються українці від росіян? Чи є українська окремою мовою?» Завжди, коли я в останні роки втомлювалася відповідати на такі запитання, мені на допомогу приходив мій чоловік-німець: «Україна – це найкрутіша демократія на всьому пострадянському просторі! Це найцікавіший проект розбудови нації, який коли-небудь мала Європа, бо Україна – це поліетнічна, багатомовна та багатоконфесійна держава. Це, так би мовити, зразковий екземпляр Європи, якою ми б хотіли її бачити: єдність в різноманітності. Нам треба, нарешті, навчитися бачити Україну окремо від Росії – тобто, перейти до пост-колоніального мислення». Так каже мій чоловік.

Вчора в Берліні пройшли два заходи, присвячені Україні. На одному з них, який проходив в Єврейському музеї, єврейські музиканти з Німеччини і з України продемонстрували перспективу, яка базується на трагічному досвіді нацистського терору під час Шоа. На другому, який проходив під егідою Президента Німеччини у палаці Бельвю, в присутності почесних гостей та телевізійної зйомочноі групи, російській піаніст та російській баритон під управлінням російського диригента виконували твори російських композиторів. А два твори українського композитора Сильвєстрова виконували роль фігового листка на цьому заході в той час, коли російські бомби руйнували українські міста і вбивали мирних українських громадян. Скільки ще цинізму та фарисейства доведеться нам ще витримати?

Так, ми маємо право не лише на те, щоб отримувати співчуття, але й на те, щоб висувати вимоги! Занадто часто до нас ставилися не як до суб’єкту, а як до об‘єкту історії. Але ці часи минули!

Процитую Сергія Жадана: «Ця війна розв‘язана, щоб знищити нас. Якщо ми програємо її, ми втратимо не тількин частини нашої території – ми втратимо наше майбутнє, втратимо самих себе».

Якщо ви спитаєте людей в Україні, чим і як можна їм допомогти, вони відповідатимуть одне й те ж : «Допоможіть нам самим захистити себе!»

Якось після чергового концерту солідарності я отримала від однієї німецької родини пакунок з приладом нічного бачення та камуфляжним одягом. До пакунку був доданий лист. Ось що в ньому було написано: «Ми дуже сподіваємося, що наші політики нарешті відмовляться від імпорту енергоресурсів з Росіі. Чи багато сенсу в санкціях, якщо ми щоденно продовжуємо сплачувати мільйони в бюджет Путіна? І я готовий платити 3 євро за літр дизелю, якщо це допоможе врятувати життя хоча б однієї української дитини! Крім того, ми сподіваємося, що й НАТО нарешті зважиться закрити небо над Україною. Так, ми теж побоюємося, що це призведе до ескалації і до ядерної війни, в який загине весь світ. Але ми ж не можемо дозволити, щоб такому злодію, як Путін, все зійшло з рук тільки тому, що він погрожує світові атомною бомбою! Якщо світ загине внаслідок того, що ми вирішимо допомогти Україні – що ж, бути по тому…

Переклад з нім.: Євгенія Комарова

Катерина Бабкіна

Це мої поля і мої сади.
Це мої фортеці у далині.
Мої пасовиська біля води,
І мої рибини на мілині.

При дорозі яблуні і айва,
Зеленіє хміль, зріє виноград
Все моє: трава, у траві мишва,
А над нею мат польових бригад.

Мій Чумацький шлях, і в могилах прах,
Сорок сім чудес, всі АЕС і ГЕС,
Дим вогнів в лісах і кадил в церквах,т
І туман увесь із озер і плес.

Це мої комбайни і трактори,
І заводів дим, й лихоманка жнив.
Сутінки зійдуть на мої двори,
І мої жінки заведуть там спів.

Це мої кордони і наркота,
Це мої наливки і самогон,
Це мої сини в теплих животах
Достигають в мріях про закордон.

Мої божевільні від дня до дня
Восхваляють Господове ім’я.
Це моя країна. І вся хуйня
В цій країні також лише моя.

То ж чого ти хочеш, безжальний світ?
Що ж мене висмоктуєш у журбі?
Я і певний брід, і смачний обід,
І жінок, і рибу віддав тобі.

Розтисни кулак, напрямок чи знак
Поміняй на все неземне й земне –
Де ховаєш ту, котра просто так,
Без мого усього прийме мене.

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