Eine der gefährlichsten und weitreichendsten Folgen der nunmehr offenen Aggression Russlands gegen die Ukraine seit Februar 2022 ist die weitere russische Untergrabung des Atomwaffensperr- beziehungsweise Nichtverbreitungsvertrags. Dieser 1968 entstandene mulilaterale Pakt zur Verhinderung der Verbreitung von Nuklearsprengköpfen und waffenfähigem Nuklearmaterial ist eines der wichtigsten internationalen Abkommen der Menschheit. Spätestens seit Anfang 2014 haben Moskaus antiukrainische Aktionen die Logik des Atomwaffensperrregimes auf den Kopf gestellt.

Der 2014 zwar noch verdeckte, aber bereits damals massive militärische Eingriff Russlands in die Ukraine betraf ein Land, das einst über Kernwaffen verfügte, diese aber im Zuge ihres Beitritts zum Atomwaffensperrvertrag 1994 aufgegeben hatte. Der nur notdürftig kaschierte russische Angriff auf die Ukraine erweckte bereits vor neun Jahren den Eindruck, der Zweck des Abkommens bestehe darin, schwache Länder wehrlos und zur Beute offizieller Kernwaffenstaaten zu machen. Der russische Präsident Wladimir Putin illustrierte diesen Sachverhalt, als er sowohl 2014 als auch 2022 verkündete, dass die Nuklearstreitkräfte seines Landes in Alarmbereitschaft versetzt seien. Putin und seine Gefolgsleute drohten und drohen unverhohlen jedem, der es wagt, sich Russland in den Weg zu stellen, mit einem Atomschlag.

In den frühen 1990er Jahren verfügte die neue, unabhängige Ukraine kurzzeitig über mehr Atomsprengköpfe, als Großbritannien, Frankreich und China zusammengenommen. Die Ukraine erbte von der Sowjetunion etwa 1.900 strategische und 2.500 taktische Atomwaffen, die auf ihrem Territorium stationiert waren. Vor dem Hintergrund der Tschоrnobyl-Katastrophe 1986 und im Geiste des weltpolitischen Optimismus der ersten Jahre nach Ende des Kalten Krieges entschied Kyjiw jedoch, dass die Ukraine vollständig atomwaffenfrei wird.

Freilich konnte die ukrainische Armee zu dieser Zeit einen Großteil der verbliebenen Atomwaffen ohnehin nicht einsetzen, da sich die Kommandozentralen der Raketen in Moskau befanden. Allerdings verfügte die Ukraine damals nicht nur über eine Vielzahl verschiedener Sprengköpfe, sondern auch über spezialisierte Industriekapazitäten, wissenschaftliche Forschungsinstitute und technisches Know-how, die sie hätte nutzen können, um ein kleiner Atomwaffenstaat zu werden. Sie hätte etwa einen Vorrat an angereichertem Uran oder Plutonium beziehungsweise womöglich sogar Kernwaffen und Sprengköpfe behalten können. Auf Druck Moskaus und Washingtons übergab Kyjiw jedoch sein gesamtes waffenfähiges Nuklearmaterial an Russland. Die Ukraine unterzeichnete und ratifizierte den Atomwaffensperrvertrag als offizieller Nichtnuklearstaat.

Außerhalb des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) haben nur Indien, Israel, Nordkorea und Pakistan eigene Nukleararsenale. Ihren Waffenvorräte sind jedoch deutlich geringer als die der fünf Staaten, denen der Besitz von Atomsprengköpfen im NVV ausdrücklich erlaubt ist: Großbritannien, China, Frankreich, Russland und die Vereinigten Staaten, die auch ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags ist er noch weitgehend intakt. Mit seinem Angriff auf die Ukraine seit 2014, seiner Eroberung und Annexion immer neuer ukrainischer Territorien sowie seiner anhaltenden Terrorkampagne gegen die ukrainische Zivilbevölkerung hat der Kreml die Logik des Nichtverbreitungsregimes ad absurdum geführt.

Die Sicherheitszusagen für die Ukraine durch die Atomwaffenstaaten im Budapester Memorandum der USA, Russland, Großbritannien und der Ukraine sowie die parallelen chinesischen und französischen Regierungserklärungen von 1994 haben sich für Kyjiw als nutzlos erwiesen. Vor dem Hintergrund des russischen Verhaltens seit 2014 sieht es nun so aus, als ob der Zweck des NVV darin bestehe, den fünf offiziellen Atomstaaten, die auch zu den stärksten konventionellen Militärmächten der Welt gehören, die Möglichkeit zu geben, ihre Staatsterritorien zu erweitern. Sie können dies auf Kosten kleinerer Länder tun, die naiverweise an die Herrschaft des Völkerrechts glauben und den NVV als Nichtkernwaffenstaaten unterzeichnet haben.

Sollte Russland aus seinem heutigen Krieg mit der Ukraine mit einem territorialen Gewinn herauskommen, wäre dies nicht nur für Kyjiw fatal. Es dürfte das Ende des derzeitigen internationalen Sperrregimes zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen bedeuten. Etliche Länder ohne Kernwaffen beziehungsweise ohne enge atomwaffenbesitzende Bündnispartner würden aus dem Schicksal der Ukraine ihre eigenen Schlussfolgerung ziehen. Sie könnten zu dem Schluss kommen, dass nicht Völkerrecht und internationale Organisationen sowie Solidarität, sondern nur der Besitz eigener Massenvernichtungswaffen zuverlässig staatliche Grenzen, Integrität und Souveränität sichert.Hugo von Essen und Andreas Umland sind Analysten am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale

Andreas Umland, BUWK
Hugo von Essen