Konstantin Sigov, BUWK

Stimmen aus der Ukraine

In einem langen Interview mit Le Figaro spricht der französischsprachige ukrainische Politikphilosoph über die Tragödie seines Landes, beschreibt das „nationale Erwachen aus der Tiefe“, das es den Ukrainern ermöglicht, der russischen Aggression Widerstand zu leisten. Er erklärt, dass „es eine echte Chance gibt, die Agonie von Putins Macht und die Entstehung echter Veränderungen im europäischen Ethos mitzuerleben“, wenn die europäische Solidarität wächst. Es ist die „Vereinigung des ukrainischen Widerstands und der europäischen Solidarität“, die die russische „imperiale Besessenheit“ überwinden wird, aber diese Chance könnte verloren gehen, wenn wir auf halbem Weg stehen bleiben, um Putins kriminelles Regime zu besiegen. Der Westen wurde zu der Annahme verleitet, Russland habe 1991 mit dem Stalinismus gebrochen. Die Verbrechen des Putinismus und des Kommunismus müssen verurteilt werden, um aus der „sowjetischen Tragödie, die seit 1917 andauert“, herauszukommen.

Interview von Laura Mandeville

Sie haben Ihr Leben Ideen gewidmet. Sie sind in Kiew geboren. Und heute informieren Sie von der Ukraine aus Europa und die Welt über den Widerstand Ihres Volkes. Erzählen Sie uns davon.

Ich bin hier mit meiner 93-jährigen Mutter, meinem Bruder und meinem Sohn. Jeden Abend gehen wir in den Keller runter. Und jedes Mal frage ich meinen Sohn Roman, der mit internationalen Journalisten im Frontbereich arbeitet, wo er die Nacht verbringen wird. Gestern schlief er zwischen den Büchern in der Diele, weg von den Fenstern. Dieses Gebäude befindet sich in der Nähe des Fernsehturms zwischen Babyn  Yar, wo die Rakete einschlug, und der U-Ban- Station  Lukyanivska. Ich bemerkte, dass es vielleicht besser wäre, in der U-Bahn zu schlafen, deren Station sehr tief liegt. Am 24. Februar brachten wir Sandsäcke an der Außenseite der Fenster an und stapelten innen Bücher vor den Fenster. Ich hoffe, Sie brauchen in Paris keine Sandsäcke, aber hier retten sie Leben. In der Nähe befindet sich die Sophienkathedrale, die ist ein Jahrhundert älter als die Kathedrale Notre Dame: In den 1930er Jahren wollte Stalin sie abreißen.

Jeden Tag fragen wir uns, ob eine Bombe in die Hagia Sophia und ihre Mosaiken aus dem 11. Jahrhundert einschlagen wird…Auf meiner Facebook-Seite gibt es ein Foto der Mosaik von Oranta: das Bild der Muttergottes, die ihre Hände gen Himmel streckt. Der wunderbare ukrainische Kulturphilosoph Serhiy Krymsky machte darauf aufmerksam, dass die Geste von Oranta die Geste von Moses ist, der seine Hände hoch streckt, damit Israel den Kampf mit den Amalekitern nicht verliert. Gleichzeitig helfen Aaron und Gur ihm, die Hände hoch zu halten … Die Europäer müssen zusammen mit den Ukrainern die Hände hoch halten. Unsere Hände werden müde, aber wir müssen durchhalten. Denn eine grundsätzliche Frage wird derzeit geklärt: entweder wird die „sowjetische Tragödie“, die 1917 begann, enden und wir werden der wiederwachten imperialen neosowjetischen Wut einen Riegel vorschieben, oder wir werden für Jahrzehnte erneut in ihr versinken. In den 1990er Jahren gab es keinen Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit.

Wir Europäer waren zu naiv. Wir dachten, wir könnten auf einen Nürnberger Prozess gegen den Kommunismus verzichten, trotz der Warnungen von Dissidenten wie Volodymyr Bukovsky und Mustafa Dzhemilev. Das Ausbleiben einer gerichtlichen Verurteilung von Kommunismus bereitete den Boden für eine Rückkehr zum Stalinismus und Putinismus. Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse ist ein Gerichtsverfahren, in dem Frankreich, das Heimatland des Menschenrechtsschutzes, aufgerufen ist, eine aktive Rolle zu spielen. Nur so kommt es nicht zu emotionalem Revanchismus. Wir fordern Fairness und Gerechtigkeit.

Putin warnt  „Volksverräter“, dass sie „gesäubert“  werden. Dies ist eine Rückkehr zum Wesen des Stalinismus.

Eine Bewegung in Richtung Gewalt und Vergangenheit findet statt, weil Putins Regime keine wirklichen Hindernisse hatte. Um die Verbrechen des Putinismus zu beurteilen, ist es notwendig, eine klare Einschätzung des Stalinismus abzugeben, was die Arbeit der Organisation „Memorial“ war. Die offizielle Schließung von „Memorial“ im Dezember signalisierte das Herannahen des Krieges. Aber selbst Putins eigene Terminologie über Verräter verrät, was Putin befürchtet. Schließlich war er es, der sein Volk und die ganze Menschheit verraten hat!

Im vergangenen Jahr blieb ein Ereignis in der Ukraine nicht unbemerkt: der 700. Todestag von Dante. Olga Sedakova machte auf die 33 Lieder der „Göttlichen Komödie“ aufmerksam, in denen Dante eine Szene aus der Hölle beschreibt, in der Menschen während eines Festes essen, trinken und Kleidung tragen. Aber ihre Seelen sind bereits in der Hölle! Sie haben also ein so schreckliches Verbrechen begangen, dass nichts Menschliches mehr in ihnen war. Das sehen wir bei Putin. Eines Tages wird er vor Gericht stehen, und das Gericht wird seine persönliche Verantwortung beweisen, die er für die gesprengten Gebäude in Moskau im Jahr 1999 trägt, die den zweiten Krieg in Tschetschenien provozierten, für die Art und Weise, wie die Kriege im Kaukasus geführt wurden, für die Ermordung von Anna Politkowskaja und anderer Oppositioneller und Konkurrenten und später für den Einmarsch in die Ukraine. Dieses Gericht wird der Welt einen Serienverbrecher zeigen. Die Frage ist, wann wird diesem Übel ein Ende gesetzt?

Präsident Biden nennt Putin einen Kriegsverbrecher. Er ist jedoch immer noch an der Macht.

Niemand kann vorhersagen, wie lange dieses Regime andauern wird. Aber selbst 2014, während der Maidan-Revolution, wusste niemand, dass der Diktator irgendwann fliehen würde. Es geschah, weil Diktatoren nicht allmächtig sind, auch wenn sie uns das weismachen wollen! Wir wissen nicht, wann die Selbstzerstörung des Bösen stattfinden soll. Aber diese Zeit wird kommen. Wie bei einem Mobiltelefon: dort hat der Akku auch nur eine begrenzte Ladekapazität. Die Erkenntnis, dass es diese Grenze gibt, hilft uns, der Angst, die zu falschen Entscheidungen führt, eine Barriere zu errichten.

Es gibt Menschen in Russland, die auch davon träumen, diesem Regime ein Ende zu setzen. Sehen Sie sie als Waffenbrüder, trotz des Krieges gegen die Ukraine?

Wir dürfen die Kernthese nicht aufgeben, dass dieser Kampf nicht nur unser, sondern auch der der anderen ist. Denn diese These mobilisiert den Geist der Vernunft und jene menschlichen Eigenschaften, die das Putin-Regime zerstören will. Jeder, der offen erklärt, dass er gegen Krieg ist, ist ein Verbündeter der freien Welt. Ich weiß, dass es Menschen in Russland gibt, die das 2014 getan haben, als die meisten Russen „Die Krym gehört uns“ skandierten. Sie sagten, es sei ein Verbrechen gegen das Völkerrecht und die Annexion. Ja, meine Heimatuniversität, die Kyiv-Mohyla-Akademie, verlieh dem Historiker Andriy Zubov, der den Krieg verurteilte, sowie der Literaturnobelpreisträgerin Svitlana Aleksiyovych den Ehrentitel Doctor Honoris Causa.

Aber Ihre Frage hat noch eine andere Seite, die wir nicht ausklammern dürfen. Dies ist eine intellektuelle Falle, in die oft  die russische Intelligenz gerät, die Kultur und Politik voneinander trennt. Relevant ist die Geste von Thomas Mann, der Nazideutschland aus Protest  gegen das Böse verließ. Schließlich haben wir noch nicht gewonnen. Wenn ein Dirigent sich weigert, den Krieg zu verurteilen, sollte es ihm unter diesem Gesichtspunkt meines Erachtens nicht gestattet werden, seine Konzerte zu organisieren.

Sprechen Sie über die Schlüsselrolle der moralischen Position jeder Person?

Dieser Schlüsselmoment für den postsowjetischen und im weiteren Sinne für den europäischen Raum wird den Übergang zu einem neuen Ethos bedeuten, das uns dazu verleiten wird, die Notwendigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, nicht von kulturellen Aktionen zu trennen. Die berühmte Schriftstellerin Nadiya Mandelshtam beeindruckte einst viele sowjetische Intellektuelle mit dem kategorischen Ton, mit dem sie über die „Kannibalen“, „Verbrecher“ des stalinistischen Regimes sprach, die  ihren Ehemann getötet hatten. Sie sagte, dass es unmöglich ist, einem ethischen Gericht zu entkommen, egal, wie virtuos das Lied vorgetragen wird. Nadiya Mandelstam verstand, dass die Versuchung der russischen Intelligenzia darin bestand, zu sagen: Ja, wir haben Osip Mandelstam getötet, aber wir können auch die Verdienste des Regimes loben – also, Orwells „Doppeldenken“  zu übernehmen.

Werden wir Zeugen der letzten Zuckungen des russischen Kaiserdrachens?

Ja, das imperiale Paradigma bricht hier in der Ukraine zusammen. Aber nur wenige Russen sind bereit, das zuzugeben. In Vercors Buch „Das Schweigen des Meers“ begegnet ein deutscher Offizier der französischen Kultur mit Respekt, er glaubt nicht, dass die Kultur Goethes höher sei, als die der Franzosen. Das fehlt den Russen wegen der imperialen Arroganz, die sogar viele von denen haben, die gegen den Krieg sind und uns unterstützen. Es ist schwer, russische Intellektuelle zu finden, die versuchen, Geschichte der ukrainischen Kultur zu studieren, unsere Literatur kennenzulernen, die Stimmen der Völker zu hören, die unter dem Imperium gelitten haben, abgesehen von der Stimme ihres  eigenen. Das Ende des Imperiums kann nur kommen, wenn sie Interesse an anderen Nationen zeigen, wie es Dissident Andriy Sacharov oder General Petro Grigorenko taten. Wir müssen verlangen, dass sie den Krieg verurteilen und die begangenen Fehler anerkennen. Aber das erste, was getan werden muss, ist, zuerst den Krieg zu beenden und dann die Schuldigen an  begangenen Verbrechen vor Gericht zu stellen. Während Verbrechen begangen werden, müssen wir gemeinsame kulturelle Projekte aufgeben, einen historischen Bruch machen, wenn wir auf Reue hoffen wollen.

Wenn wir den Krieg beenden, wird dieses Regime nach einem Ausweg suchen.

Wir müssen eine demokratische Ukraine bewahren, und deshalb muss die Bombardierung ihrer Städte aufhören. Aber das ist die erste Stufe. Dann müssen wir den Putinismus besiegen. Denn die wirkliche Sicherheit von Paris und Kiew wird erst gesichert, wenn dieses kriminelle Regime fällt. Um den Krieg zu beenden, müssen wir natürlich ohne Fetischismus verhandeln und uns vor falschen Positionen hüten. Alle demokratischen Länder werden Opfer bringen müssen, damit die Demokratie gewinnt. Wir werden bescheidener leben müssen, ohne russisches Gas. Aber wir werden unsere eigenen Länder mehr respektieren, wenn wir diesen schwierigen Weg gehen. Am Vorabend der Revolution auf dem Maidan erweckte Kiew den Eindruck einer amorphen Gesellschaft, was alle ärgerte. Wir waren noch unzufriedener als heute die Franzosen mit ihrem Staat unzufrieden sind. Daher war das nationale Erwachen für alle eine große Überraschung. Es zeigte sich, dass jede freie Gesellschaft, auch wenn sie unter Hypnose steht, in ihrem Inneren Ressourcen in sich birgt, die wie unterirdische Flüsse lange Zeit in der Tiefe verbleiben und dann plötzlich am helllichten Tag an die Oberfläche heraustreten  und alle überraschen, nicht nur Diktatoren wie Viktor Janukowitsch und Wladimir Putin.

2014 haben wir plötzlich begriffen, dass wir eine Republik sind, dass wir vereint sein können wie nie zuvor, wir haben unsere Nachbarn besser kennengelernt, es hat ein kompletter Perspektivwechsel stattgefunden. Und heute wird er wiederholt. Einst wurden die „pro-russischen“ Bürgermeister von Charkiw und Odessa verächtlich kritisiert, aber jetzt sind sie mit den besten Patrioten zusammen, sie sind standhaft wie Felsen.

Was nennt Hannah Arendt den „verborgenen Schatz des Widerstands“? In Frankreich existierte dieser Schatz auch während der Résistance, und er könnte zurückkehren. Wir haben es 1968 in Prag und 1956 in Budapest gesehen. Diese Eigenschaft, die für jedes europäische Land charakteristisch ist, manifestiert sich, wenn es um Leben und Tod geht! Wussten Sie, dass mehr als 800 Kinder, darunter 12 Zwillingspaare, in Kiew unter den Bomben geboren wurden? Heute spüre ich körperlich die unglaubliche Kraft des Lebens, einen Widerstand, der nicht aufzuhalten ist. Das ist Bergsons Elan vital. Jeder kann Churchill werden. Die Europäer vergaßen den Geschmack der Freiheit, sie hatten die Illusion, dass es eine Selbstverständlichkeit sei. Aber mit diesem Krieg müssen sie verstehen, dass Freiheit unbezahlbar ist.

Die Frage nach der Wahrheit ist zentral. Im Westen, wo es einen freien Zugang zu Informationen gibt, haben sich dennoch viele von Putins Propaganda täuschen lassen.

Dies ist die Schlüsselfrage. Putins Propagandamaschine war in der Tat darauf bedacht, jeden Wunsch nach Wahrheit zu Hause und in Europa im Keim zu ersticken. Wir hören, dass es von beiden Seiten Propaganda gibt: Das ist eine typische Putin-Methode, um zu demonstrieren, dass es keine Wahrheit gibt. Aber lassen Sie mich Sie daran erinnern, dass es eine radikale Asymmetrie gibt: Russische Zivilisten wurden nicht angegriffen. Bürger der Ukraine, Frauen, Kinder und ältere Menschen sterben. Die Wahrheit ist sehr verletzlich, weil alles getan wurde, um sie zu zerstören, um in der „Post-Wahrheit“ zu leben. Ein Ausdruck davon ist das Phänomen Schröder (der ehemalige deutsche Bundeskanzler, der in den Vorstand von Gazprom berufen ist) oder das Phänomen der Fortsetzung der Aktivitäten französischer Unternehmen in Russland trotz des Krieges. Aber in einigen slawischen Sprachen bedeutet das Wort „Wahrheit“ auch „das Recht, das Gesetz“. Wenn Putin und sein Team die Wahrheit ablehnen, tun sie das, weil sie unter Bedingungen der Willkür leben wollen. Im Westen denken viele, dass es nicht so ernst sei, dass es die Grundlagen des Rechts nicht bedrohe.  Sie verstehen nicht, dass die Zerstörung der Wahrheit ein Orkan ist, der alles hinwegfegt, weil er Willkür und Gesetzlosigkeit zur Norm werden lässt. Die Wahrheit ist dagegen, dass jemand geschlagen oder gefoltert wird. 

Ich habe kürzlich mit einem Philosophen gesprochen, der für sein gesellschaftliches Engagement   bekannt ist, Igor Kozlovsky, der 700 Tage im Donbas im Gefängnis verbrachte und von Separatisten gefoltert wurde. Jeder in Mariupol oder Cherson kann sich heute in einer solchen Situation wiederfinden.

Wir Ukrainer sind zum physischen Körper geworden, der die spirituelle Verbindung zwischen Wahrheit und Gesetz bezeugt. Wenn wir die Wahrheit verlieren, verlieren wir das Recht auf Leben, auf Würde. Wir werden versklavt.

All dies bringt mich zurück zu der These: Europa  als die letzte Utopie, die das Thema von Dominic Waltons Buch ist. Die Verwundbarkeit dieser Utopie liegt in ihrer tiefen Zweideutigkeit. Denn die EU war sicherlich ein Magnet, der Ungarn, Tschechien, Polen und andere Länder anzog. Aber das war ein narzisstischer Moment. Es gab einen blinden Fleck, denn die Europäer waren sich einig, dass die ehemalige UdSSR nach anderen Regeln lebte. Sie glaubten, dass sie in der gleichen Ära wie die ehemalige UdSSR lebten, aber in unterschiedlichen Räumen, aber tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Wir leben im selben Raum, aber in unterschiedlichen Epochen, denn drei Flugstunden von Paris entfernt kann man bombardieren und foltern. Die historische Zeit ist anders. Aber das ist unser europäischer Raum! In diesem Bereich haben einige Länder den Demokratietest nicht bestanden und konnten die Tyrannei von Putin und Lukaschenka nicht loswerden. Die Tatsache, dass wir diesen Anachronismus zugelassen haben, bedeutet, dass wir dafür verantwortlich sind.

Aber haben die Europäer das verstanden? Wir haben gesehen, wie sie 1989 als Beginn der Postgeschichte interpretierten, sie begannen, sich zu entwaffnen!

Das stimmt, aber mir scheint, dass wir ab dem 24. Februar Zeugen einer radikalen Neubewertung dieser europäischen Utopie werden. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Kernkraftwerke Tschernobyl und Zaporizhzhya, aber auch Kiew und Charkiw, Europa sind, und wir müssen den Stier bei den Hörnern packen und verstehen, dass wir diese Tragödie nur gemeinsam stoppen können. Wir müssen unsere Prioritäten überdenken. Die größte Herausforderung besteht darin, dass es in der unmittelbaren Nähe zu unseren  Grenzen einen kriminellen Staat gibt, der nur drei Flugstunden von Paris entfernt mit dem Morden begonnen hat. Alles ist in unserem einen Raum verbunden.

Aber wie kann man dieses Regieme zum Fall bringen? Inwieweit können Informationen dieses Regime erschüttern? Wird die Ukraine eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung der Wahrheit in Russland spielen?

Die freiesten russischen Massenmedien sind seit langem in Kiew. Eines der Hauptelemente sollte es sein, zu sagen, dass es eine Grenze und einen Feind gibt: ein Regime, das uns zerstören will. Man muss zugeben, dass die De-facto-Grenze der europäischen Demokratie durch die Ostgrenze der demokratischen Ukraine verläuft. Nur so kann man Russland von der imperialen Versuchung befreien, den heißen Köpfen der russischen Regierung klar machen, dass hier Russlands Grenze ist.

Denn ohne die Ukraine wird Russland gezwungen sein, sich von seinem imperialen Phantom zu verabschieden. Dann wird diese Grenze diejenige sein, die es Russland wiederum ermöglicht, sich von dem zu befreien, was der Putinismus geschaffen hat. Wir hatten uns keinen Isolationismus gewünscht. Aber wir lehnen die freiwillige Blindheit gegenüber dem Bösen ab. So muss der von Frankreich erlaubte Verkauf militärischer optischer Ausrüstung an Russland nun gestoppt werden. Denn wir leben in dunklen Zeiten, wie Hannah Arendt sagte. Wir werden uns neu orientieren müssen, damit wir gemeinsam in die Freiheit gehen: wir beide, und du, und sie. Freiheit ist unteilbar, aber man kann sich nicht mehr täuschen lassen.  

Wie ist die Unterstützung von Putins Krieg durch Millionen Russen zu erklären?

Einer der angesehensten russischen Philosophen, Anatoly Akhutin, schrieb kürzlich, dass die Hauptantriebskraft hinter Putins Machtmaschine der moralische Verfall der russischen Gesellschaft sei. Sie wurde  lange Zeit mit Fernsehpropaganda einer Gehirnwäsche unterzogen, und heute richtet sich Putins Machtmaschine  gegen dieEuropäer. Wenn es funktioniert, wird sie sie einschüchtern, sie kaufen … Das bedeutet, dass Sie sich nicht in der Politik engagieren können, ohne eine ethische Komponente zu berücksichtigen , denn wir sprechen von einer kriminellen Macht, die unendlich gefährlicher ist als die Mafia, mit der Erfahrung der drei Generation in der Ausnutzung aller repressiven Machthebel des FSB und der Armee.  

Daher das absolute Missverständnis von „Realisten“, die eine „Realpolitik“ fordern … 

Sie verwenden diesen „Realismus“, weil sie davon ausgehen, dass sie geschützt sind, während die europäische Szene bereits die Titanic ist. Dieses falsche Sicherheitsgefühl, das die Europäer denken lässt, dass die Vereinigten Staaten ihre Sicherheit garantieren, während sie sie dafür hassen, funktioniert nicht mehr. Wenn wir weiter in dieser Illusion leben, wird die Sicherheit von einem Diktator garantiert, der sklavische Unterwürfigkeit verlangt. Wir befinden am Rande eines Abgrunds.  Es ist entscheidend, zu verstehen, wie man sich gemeinsam verteidigt. Es besteht eine reale Chance, dass in Europa Veränderungen eintreten,  und wir werden die Agonie der derzeitigen russischen Regierung miterleben, denn politisch und zivil hat Putin diesen Krieg bereits verloren. Aber das war vom Anfang an klar. Es besteht aber auch die reale Gefahr, dass Feigheit, Trägheit und Missverständnisse den Europäern die Chance nehmen, die der ukrainische Widerstand bietet. Ukrainischer Widerstand und europäische Solidarität können gemeinsam der russischen imperialen Besessenheit ein Ende bereiten.

Für BUWK übersetzt von Yevgenia Komarova

Quelle:  Le Figaro