In dem nachfolgenden Artikel geht es um die Evangelische Friedensethik wie sie in der Denkschrift unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) ausgeführt wird, genauer um die Frage, ob sie vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine noch zeitgemäß ist oder korrigiert werden muss. Zu dieser Frage gibt es innerhalb der „Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) mindestens drei unterschiedliche Auffassungen. Um diese Frage allerdings richtig zu beurteilen, braucht es
- eine Einordnung der Ausgangssituation.
- Schließlich geht es dann um die Grundlagen der Evangelischen Friedensethik,
- damit die Frage, wie sie auf die heutige Situation in der Ukraine zu beziehen sei, beantwortet werden kann.
Selig sind, die Frieden stiften,
denn sie werden Töchter und Söhne Gottes genannt werden
(Matthäus 5, 9)
Ausgangssituation
Am 23. Februar hat der Staatspräsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, in der Nacht auf den 24.02. eine Fernsehansprache gehalten, in der er die russische Bevölkerung über den bevorstehenden Überfall auf die Ukraine informierte. Der Krieg begann sodann um 06:00 Uhr Ortszeit des 24.02.
Auf die Argumente, mit denen der Krieg – im Putinschen Wortlaut „militärische Sonderaktion“ genannt – gerechtfertigt wurde, gehe ich nicht ein. Sie ist im Internet nachzulesen.
Der Krieg ist ein Angriffskrieg
- und verletzt somit die Souveränität des ukrainischen Staates. Gegen dieses Recht verstieß die russische Staatsregierung bereits mit der Annexion der Krim.
- Der Krieg verstößt gegen das Völkerrecht, Internationales Öffentliches Recht genannt, das sich auf die Charta der Vereinten Nationen beruft und mit dem dort rechtlich niedergelegten Gewaltverbot einen Angriffskrieg verbietet. Nach dieser Rechtsordnung hat die Ukraine das Recht der Selbstverteidigung.
- Der Krieg verstößt gegen das Kriegsrecht. Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen (Krankenhäuser, Schulen, Kindergärten …) sind verboten und gelten als Kriegsverbrechen. Dementsprechend haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Internationale Gerichtshof angeordnet, die militärischen Operationen sofort einzustellen. Am 02.03.2022 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution mit einer (historischen) Mehrheit von 141 Stimmen, die den Einmarsch in die Ukraine verurteilte und Russland zum sofortigen Rückzug seiner Truppen aufforderte.
- Der Krieg verstößt gegen Menschenrechte. Dementsprechend hat am 08.03.2022 der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, um gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ermitteln. Anlass ist der Einsatz von Streubomben.
Evangelische Friedensethik
Hatte sich die Bundesregierung noch vor dem Beginn des Angriffskrieges geweigert, sich an den Waffenlieferungen der NATO-Staaten zu beteiligen, obwohl die Bedrohungslage akut war, so vollzog sie mit dem Beginn des Einmarschs in die Ukraine eine Kehrtwende. Sie beschloss
- der Ukraine sofort Panzerabwehrwaffen zu liefern;
- einen Sonderhaushalt von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr;
- den Haushalt für Militärausgaben von 1,5 % auf 2% aufzustocken.
Wie lassen sich diese Maßnahmen politisch und theologisch-ethisch einordnen? Sind sie mit der „Evangelischen Friedensethik“ vereinbar oder muss diese angesichts der Kriegssituation überprüft werden, wie Annette Kurschus, ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirchen Deutschlands (EKD) und ehemalige Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, in einem epd-Interview vermutete? „Ich bin nicht der Meinung, wir müssten jetzt unsere Friedensethik über den Haufen werfen. Wir sollten sie aber einer kritischen Prüfung unterziehen und neu diskutieren. Die schmerzlichen Lernprozesse, die wir gerade durchleben, müssen sich in unserer Friedenethik niederschlagen. Es ist ein Kennzeichen protestantischer Ethik, dass dort nichts für alle Zeiten festgeschrieben ist, sondern dass wir sie weiterentwickeln können, wenn sich Situationen einschneidend verändern.“
Es gibt in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) mittlerweile mindestens drei unterschiedliche, fast schon kontroverse Auffassungen zur evangelischen Friedensethik im Zusammenhang mit dem russischen Krieg in der Ukraine.
- Die ehemalige Ratsvorsitzende der EKD und Präses der Ev. Kirche von Westfalen, Dr. hc. Annette Kurschus, urteilt in einem Interview mit dem Bremer „Weser Kurier“ am 14.04.22, dass die Erfahrungen mit dem Angriffskrieg Russlands „in die evangelische Friedensethik integriert“ werden müssten. Sie sieht hierbei die Waffengewalt zur Verteidigung als „Ultima Ratio“ sowie Waffenlieferungen durch am Krieg unbeteiligte Staaten als Unterstützung dieses Zieles. Waffenlieferungen sind für Annette Kurschus mit der Friedensethik vereinbar.
- Demgegenüber lehnt der Friedensbeauftragte der EKD, Landesbischof Friedrich Kramer von der Ev. Kirche in Mitteldeutschland, Waffenlieferungen ab. Die evangelische Friedensethik ist für ihn nicht veränderungsbedürftig.
- Die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 sei eine gute Diskussionsgrundlage. Aber sie müsse aktualisiert werden, meint der evangelische Militärbischof in einer Veröffentlichung des Bundeswehr-Verbandes vom 30.05.22. „Manche idealistischen Vorstellungen … müssen sich an der Realität dessen, was jetzt als Aggressionskrieg durch Putin vollzogen wird, messen lassen …“
Drei unterschiedliche Positionen zur evangelischen Friedensethik. Um sie einordnen zu können, muss man wissen, worin sie besteht und welche Inhalte sie enthält.
Es folgt somit eine kurze Darstellung dessen, was hier „Evangelische Friedensethik“ genannt wird. Ich beginne mit dem
Gerechten Frieden als Leitperspektive einer christlichen Friedensethik
„Für die christliche Ethik stehen Friede und Gerechtigkeit in unauflöslichen Zusammenhang. Spätestens seit der Ökumenischen Versammlung der Kirchen, die 1988 in der DDR stattfand, gilt der ‚gerechte Friede‘ als Leitperspektive einer christlichen Friedensethik. Die im sog. ‚Konziliaren Prozess‘ für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung entwickelte Grundorientierung am ‚gerechten Frieden‘ korrigierte das während des Ost-West-Konflikts und unter den Bedingungen des nuklearen Abschreckungssystems in der nördlichen Hemisphäre vielfach vorherrschende Verständnis von Friedenspolitik als abrüstungsorientierter Kriegsverhütung, indem sie einerseits die Forderung des Südens nach globaler Verteilungsgerechtigkeit, andererseits den Schutz der Menschenrechte mit der Friedensaufgabe verband. Das Wort der katholischen deutschen Bischöfe von 2000 steht programmatisch unter dem Titel ‚Gerechter Friede‘ und profiliert ihn als kirchliches Leitbild. Auch die EKD hat in den Orientierungspunkten für Friedensethik und Friedenspolitik [erg. mit dem Titel] ‚Schritte auf dem Weg des Friedens‘ von 1994 und in der Zwischenbilanz ‚Friedensethik in der Bewährung‘ von 2001 diesen Begriff aufgenommen, allerdings bislang nicht systematisch entfaltet.“ (Das Zitat stammt aus der Denkschrift des Rates der EKD, „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“, 2007, Punkt 2.5 Vom gerechten Frieden her denken, 1. Abschnitt)
Die systematische Entfaltung erfolgt sodann in den nachfolgenden Abschnitten der Denkschrift. Sie soll nachfolgend kurz beschrieben werden.
Die Vorstellung eines „gerechten Friedens“ im Sinne einer christlichen Friedensethik hat ihre Wurzeln in der biblischen Überlieferung.
- Doch Gottes Hilfe ist nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserem Land Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen und Gerechtigkeit und Friede sich küssen.“ (Ps 85, 10f)
- Lass die Berge Frieden bringen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit.“ (Ps 72, 3)
- Ps 9, 1-6
- Schwerter zu Pflugscharen (Jes 2, 2-4 / Micha 4, 1-5)
- Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein. (Jes 32, 17)
- Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im Heiligen Geist. Röm 14, 17)
- U.a.m.
Die Vorstellung von einem „gerechten Frieden“ ist nicht das Ergebnis eines Fortschrittglaubens, sondern Kennzeichen des Reich Gottes. Kann sie aber mit diesem Horizont ein realistisches Leitbild für eine politisch anwendbare Ethik sein?
Das Reich Gottes ist unverfügbar, aber keinesfalls bedeutungslos. Es enthält eine ganzheitliche Vorstellung von einem Frieden = Schalom, das den Frieden der Menschen zu sich selbst, untereinander, zur Gemeinschaft und zu Gott umfasst. Ich bin mit mir im Reinen, mit meinem Nächsten und Fernen sowie mit Gott. Dieser Frieden setzt Gerechtigkeit voraus. Frieden und Gerechtigkeit bedingen einander und interpretieren sich gegenseitig. „Die Frucht der Gerechtigkeit wird gesät in Frieden für die, die Frieden stiften.“ (Jak 3, 18) Gerechtigkeit im biblischen Sinne wird verstanden als Kategorie einer sozialen Praxis der Solidarität, die sich vorrangig den Armen und Benachteiligten zuwendet. „Die ‚bessere Gerechtigkeit‘, von der in der Bergpredigt die Rede ist (Mt 5, 20), erfüllt sich letztlich im Gebot der Nächsten-, ja Feindesliebe; sie zielt auf eine soziale Praxis zunehmender Inklusion und universeller Anerkennung. Sie befähigt zur Achtung der gleichen personalen Würde jedes Menschen unabhängig von seinen Taten (und Untaten) und sie berücksichtigt zugleich die relevante Verschiedenheit der Einzelnen in ihren Lebensbedingungen und -äußerungen. Gerechtigkeit kommt hier als Tugend in den Blick, als eine personale Qualität und Haltung, die allerdings nicht aus sich heraus besteht, sondern sich einer göttlichen Zusage verdankt: als nichtselbstgerechte Gerechtigkeit (Röm 3, 28). Eine solche nichtselbstgerechte Gerechtigkeit ist darauf bedacht, auch berechtigte Ansprüche und Interessen des anderen zu berücksichtigen.“ (Denkschrift, Unterpunkt 2.5.1, 4. Abschnitt)
Was heißt das konkret? Hier einige wesentlichen Aspekte des „Gerechten Friedens“:
Gerechter Friede dient der menschlichen Existenzerhaltung und -entfaltung. Er ist Bestandteil der menschlichen Würde als Spiegel der Ebenbildlichkeit Gottes (Theologische Anthropologie). Die menschliche Würde enthält das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und bedarf darum
- des Schutzes vor Willkür, Ungleichbehandlung, Diskriminierung sowie
- der Ermöglichung selbstbestimmter Entfaltungsmöglichkeiten und
- der Sicherung des materiellen und sozialen Existenzminimums.
Friede ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Er ist ein gesellschaftlicher Prozess
- von abnehmender Gewalt
- und zunehmender Gerechtigkeit – im Sinne einer politischen und sozialen Gerechtigkeit.
Innerstaatlich ist dieses Grundprinzip politisch realisiert durch die Entprivatisierung von Gewalt in Form des staatlichen Gewaltmonopols. Um das staatliche Gewaltmonopol vor Missbrauch zu schützen, wird es in demokratisch organisierten Staaten durch das Prinzip der Gewaltenteilung ergänzt. Zwischenstaatlich ist das Prinzip des Gewaltverbots in der UN-Charta verankert: „Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.“ UND GENAU GEGEN DIESE CHARTA VERSTÖSST DER RUSSISCHE ANGRIFFSKRIEG IN DER UKRAINE.
Der Prozess, Frieden in der Welt herzustellen und zu bewahren, Gewalt zu verhindern und Gerechtigkeit zu ermöglichen, bedeutet im internationalen Kontext, die Freiheit der Schwächeren zu schützen bzw. das Recht des Stärkeren durch die Stärke des Rechts zu ersetzen.
Soweit die grundsätzlichen Überlegungen zu einer evangelischen Friedensethik. Im Hinblick auf die aktuelle Diskussion zur Prüfung dieser Ethik gilt es, folgende Grundlinien zu beachten:
- Krieg ist kein Mittel der Politik. Gewalt kann niemals ein akzeptabler Weg sein, vermeintliche Ansprüche durchzusetzen. Angriffskriege sind unbedingt zu ächten.
- Stärke des Rechts statt Recht des Stärkeren. Die vermeintlichen Interessen von Nationen und Völkern können niemals das Selbstbestimmungsrecht von Menschen und Völkern ignorieren. Alle Nationen bedürfen der Einbindung in eine internationale und multipolare Friedensordnung.
- Frieden ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Der bloße Nichtkrieg ist das absolute Minimum. Frieden im vollen Sinne ist ein vielschichtiger Prozess: Anerkennung von Sicherheitsinteressen, Förderung von sozialer Gerechtigkeit über Grenzen hinweg inclusive gerechter Teilhabe an Rohstoffen, vielfältige Begegnungen von Menschen im Rahmen von Tourismus, Austausch, Kultur, Sport und der Dialog der Religionsgemeinschaften.
- Rechtserhaltende Gewalt als Ultima Ratio. Im Extremfall massiver Verletzung elementarer Menschenrechte kann der Einsatz rechtserhaltender Gewalt nicht ausgeschlossen werden. Dabei ist es selbstverständlich, dass militärische Aktionen niemals den Frieden sichern können, sondern friedensförderndes Handeln neu möglich machen müssen.
In der konkreten Betrachtung des gegenwärtigen Krieges bedeutet dies:
- Weil Krieg nicht Mittel der Politik ist, ist der Angriffskrieg der Russischen Föderation zu verurteilen.
- Weil das Selbstbestimmungsrecht der Völker und Staaten ethisch gilt und völkerrechtlich verankert ist, ist der Bruch des Völkerrechts zu verurteilen.
- Weil wir – der evangelischen Friedensethik gemäß – an einer internationalen Gemeinschaft festhalten, die auf Verständigung und Dialog setzt, ist die verlogene Propaganda nach innen und außen zu verurteilen.
- Die Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation sind anzuerkennen. Wir vermissen aber die politischen und diplomatischen Bemühungen der russischen Regierung, diese konstruktiv auf internationaler Ebene (UN-Sicherheitsrat) zu benennen und zu lösen.
- Weil die internationalen Rechtsordnungen zur Sicherung des Friedens in der Welt rechtsverbindlich sind – und auch von der russischen Regierung ratifiziert wurden -, ist der Rechtsbruch durch die russische Staatsregierung zu verurteilen.
- Weil die Würde des Menschen und die Menschenrechte als universales Recht gesichert und zu sichern sind, sind die kriegerischen Strategien, die gegen zivile und humanitäre Einrichtungen gerichtet sind, der Einsatz verbotener Waffen, Massaker, Vergewaltigungen … zu ächten. Die unmittelbar Verantwortlichen und Verantwortungsträger sind gerichtlich zu verfolgen und zu verurteilen.
- Weil die Friedensethik auch die Perspektive der Opfer und der Hilfe bedürftigen Menschen enthält, ist humane Hilfe zu leisten.
- Weil die Friedensethik das Recht auf Selbstverteidigung anerkennt, ist die Ukraine in ihren Möglichkeiten, dies zu tun – auch mit Hilfe von Waffenlieferungen am Krieg unbeteiligter Staaten, zu unterstützen.
- Diese Option rechtserhaltender Gewalt ist politisch abzuwägen. In der Vergangenheit geschah dies im Rahmen einer internationalen Rechtsebene, etwa durch ein UNO-Mandat, durchgeführt werden kann. Diese Möglichkeit entfällt leider, da Russland ein Mitglied im Sicherheitsrat der UNO ist, und diesen Weg verhindert.
- Aus diesem Grund müsste für die UNO als Organ und Rechtsträger internationaler Sicherheit überlegt werden, wie der Sicherheitsrat handlungsfähig gemacht werden kann. Müsste nicht ein Mitglied, das einen völkerrechtswidrigen Akt begeht, aus dem Sicherheitsrat ausgeschlossen werden?
Kommen wir vor dem Hintergrund der dargestellten Friedensethik und der hieraus gewonnenen Folgerung zurück zur Ausgangsfrage:
Ist die evangelische Friedensethik noch zeitgemäß?
Die Regierungen der NATO-Staaten setzen – vor dem aktuellen Hintergrund des russischen Angriffskriegs – wieder verstärkt auf das militärische Mittel der Abschreckung. Der „Evangelischen Friedensethik“ wird gar vorgeworfen, dieses Mittel in ihren ethischen Überlegungen nicht mit einbezogen zu haben und hierin naiv gewesen zu sein.
Mit diesem Argument wiederholt sich eine Diskussion, die in den 80- und 90-iger Jahren rund um den NATO-Doppelbeschluss geführt wurde. Es könnte sein, dass die Abschreckungspolitik zu einer 76-jährigen Atempause in Europa und einem „Gleichgewicht der Mächte“ geführt hat. Doch der Frieden in der Welt ist – wie die bisherigen regionalen Kriege beweisen, an denen die Großmächte beteiligt sind, um ihren politischen und militärstrategischen Einfluss zu bewahren oder gar zu erweitern – nicht durch die Strategie der militärischen Abschreckung dauerhaft zu garantieren. Im Gegenteil: Durch die nukleare Aufrüstung unter Umgehung des Atomwaffensperrvertrages in diktatorisch regierten Staaten ist diese Strategie nahezu lebensgefährlich. Der Frieden kann nur politisch gesichert werden.
Im Rahmen einer Friedensethik stellen sich daher nachstehende und zu beantwortende Fragestellungen:
Für die gegenwärtige Situation in der Ukraine sind Waffenlieferungen zur Verteidigung eines völkerrechtswidrigen Angriffs und Überfalls ethisch gerechtfertigt. Dabei ist immer wieder abzuwägen – und auf internationaler Ebene mit der Ukraine abzustimmen –, welche Waffen zur Verteidigung aktuell benötigt werden.
Allerdings können Waffenlieferungen zur Unterstützung militärischer Verteidigung nicht das alleinige Mittel zur Rückkehr zu einem Waffenstillstand sein! Welche friedensfördernden Maßnahmen können internationale Vereinigungen und Sicherheitsbündnisse in Europa und der Welt über militärische Abschreckungsstrategien hinaus zum Ausgleich von nationalen Sicherheitsinteressen anbieten? Wie sind die Beziehungen zu Russland wieder neu aufzubauen? Wie gehen wir mit politischen Feindbildern um?
Wie auch immer die friedensethischen Antworten ausfallen mögen: Es wird uns Christen nicht gelingen, Antworten zu finden, die zu ethisch verantwortbaren Lösungen führen, an denen wir uns nicht schuldig machen. Mit der ethisch legitimierbaren Waffenunterstützung machen wir uns mitschuldig am Tod ukrainischer und russischer Menschen; mit einem radikalen Gewaltverzicht machen wir uns schuldig an dem gewaltsamen Untergang des ukrainischen Staates und den sich hieraus ergebenden Folgen an der ukrainischen Bevölkerung.
Zuletzt einige wenige Überlegungen zum
Feindbild
Feindbilder sind Bestandteil der Gewalt. Sie müssen zwar nicht zur Gewaltanwendung führen, sind aber die Voraussetzung dafür, Gewalt gegen Feinde anzuwenden. Um Gewalt einzudämmen, muss somit auch das Feindbild in die ethischen Überlegungen miteinbezogen werden. Als ethisches Vorbild kann eine Aussage des Menschen Jesus von Nazareth in der Bergpredigt gelten: nämlich auch „seine Feinde zu lieben“ (Mt 5, 44).
Zum Thema „Feindbild“ fand ich einen Artikel in „Zeit-Online“ von Armin Nassehi. Er trägt die Überschrift „Die Rückkehr des Feindes“. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilian-Universität in München. In seinem Artikel widmet er sich der Demokratie als Feind und Bedrohung für Putins Geschichtsphilosophie. Interessant an dieser Betrachtung ist zweierlei:
Der Blick nach außen, der Putin als diktatorischen Alleinherrscher betrachtet, der Freiheitsrechte einschränkt oder gar nicht erst zulässt und der – sehr wahrscheinlich – die Ukraine angreift, weil er die dort wachsende Entwicklung zu einer demokratischen Gesellschaft befürchtet, sowie der Blick nach innen, der sich mit unserem Verständnis von Demokratie befasst.
Ich beginne mit dem Blick nach innen: mit unserem Demokratieverständnis. Nach Armin Nassehi habe sich dieses zu einem Anspruchsverhältnis für Versorgung, angemessene Entscheidungen und Problemlösungen bei Störungen entwickelt. „Bleiben diese Lösungen aus oder stellen sie sich nicht sofort sichtbar ein, wird schnell das gesamte ‚System‘ infrage gestellt. In der Pandemie, in der Entscheidungen unter Unsicherheit getroffen werden mussten, in der die Wirkung von Maßnahmen zeitverzögert erfolgte, in der viele Fehler gemacht worden sind und die auch die Grenzen politischer Steuerung geradezu überdeutlich vorgeführt hat, wurde etwas sichtbar, was die westliche Demokratie schon länger kennt: Sie selbst wird gar nicht politisch wahrgenommen, sondern eher als eine Art Dienstleister, dem der Konsument das Vertrauen entzieht, wenn die Ergebnisse nicht stimmen. Wenn sie nicht stimmen, wird dann dem gesamten Anbieter das Vertrauen entzogen – und dann ist der Vorwurf einer ‚Diktatur‘ oder eines willkürlichen Umgangs mit den Eingriffen nicht fern. Und solche Dinge hört man nicht nur auf Demonstrationen von Spinnern, sondern bis in den Kampagnen – und Haltungsjournalismus einschlägiger Zeitungen.“ Ich ergänze: Das gilt auch für etliche Sendeanstalten, den sog. sozialen Medien und manchen Parteien. Demokratische Freiheiten werden gleichgesetzt mit Individualismus und Egoismus. Selbstbestimmung und soziale Erwartungen, subjektive Rechte und soziale Ordnung befinden sich in einem Ungleichgewicht. Sie miteinander wieder zu versöhnen, wäre die Aufgabe, die bevorsteht, Demokratie zu bewahren. Es braucht wieder einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs zur Frage, was Demokratie ist und bedeutet. Evangelische Theologie kann hierzu mit ihrer Lehre vom Menschen, der Lehre von christlicher Freiheit sowie ihrer Lehre vom Leib Christi und der hieraus folgenden Priesterschaft aller Gläubigen einen wichtigen Beitrag leisten.
Der Blick nach außen richtet sich auf die autokratischen und diktatorischen Staatensysteme. Sie sind generell demokratiefeindlich, denn ihre Hierarchien vertragen keine Elemente demokratischer Teilnahme. Dies allein reicht aus, für diese Staatensysteme ein Feindbild zu entwickeln. Wenn – wie im Fall des russischen Überfalls auf die Ukraine – ein Staat, der sich demokratisiert, militärisch bedroht wird mit dem Ziel, ihn zu vernichten, weitet sich das Feindbild aus. Es kommt zu vereinfachenden und verzerrten Wahrnehmungen. Die Medien sprechen z. B. von Putins Krieg. Das heißt, der Krieg wird personalisiert und die Schuld stilisiert. Welche Gründe zur Eskalation beigetragen haben, kann nicht mehr wahrgenommen werden.
Die Vorstellung eines „gerechten Friedens“ auf der Basis einer für alle gleichen personalen Würde hingegen beinhaltet einerseits die Anerkennung kultureller Verschiedenheit und damit andererseits den Versuch, Ressentiments, Vorurteile und Feindbilder abzubauen.
Feindbilder enthalten bewusst gesteuerte Vorurteile und Falschmeldungen, Verschwörungstheorien und langlebige Mythen, die immer wieder reaktiviert werden können. Mythen und Legenden zu widerlegen, ist schwierig und oftmals nicht möglich. Und doch sind sie falsch. Feindbildern gegenüber bedarf es einer gebotenen Vorsicht und Zurückhaltung, aber auch der entschiedenen Aufklärung.
Günther Krüger (*26.10.1955) ist Pfarrer im Ruhestand. Nach seiner Lehre zum kaufmännischen Angestellten im Groß- und Außenhandel und einer zweijährigen Tätigkeit im Edelstahlbereich studierte er in Bielefeld und Göttingen Theologie und Philosophie. Von 1987-2015 war er Gemeindepfarrer in Herdecke und Dorsten. Heute koordiniert er die Veranstaltungen des „Evangelischen Gesprächsforums in Witten“.
Seit 2021 organisiert das „Evangelische Gesprächsforum in Witten“ Veranstaltungsreihen zu aktuellen Themen im Kontext des „Konziliaren Prozesses für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“. Schon in den frühen 80-iger Jahren wurde betont, dass für alle drei Entwicklungen ein Not wendender Zusammenhang besteht.
Seit dem 24. Februar 2022 befasst sich das Forum mit der Situation in der Ukraine in Form von Gedenkveranstaltungen und Vorträgen sowie den ethischen Voraussetzungen bundespolitischer Entscheidungen im Horizont einer „Zeitenwende“. Hierzu gehört ein Vortrag zur „Evangelischen Friedensethik“ im Oktober 2021, der für die Veröffentlichung auf der Homepage von „Europa Grenzenlos e.V.“ als Artikel überarbeitet wurde.
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