Was will Putin?
- Eroberung der gesamten Ukraine
- Wiederherstellung der politischen Kontrolle über die Länder Osteuropas
- Beseitigung der NATO-Infrastruktur in allen Ländern, die nach 1990 der NATO beigetreten sind.
Diese Anforderungen sind offenkundig nicht realisierbar. Putin versteht das ja auch.
Warum tut er das?
Putin manipuliert alle dadurch, dass das Menschenleben in Europa einen hohen Stellenwert hat. Er ist zuversichtlich, dass alle seine Forderungen erfüllt werden, wenn dem Westen mit einer echten militärischen Aggression gedroht wird. Er hofft auf die Wiederholung der Situation mit Hitler, als man versuchte, diesen mit Zugeständnissen zu besänftigen.
Er hofft darauf, dass sich die Situation wiederholt, die am Ende der 1930er Jahre in Europa aufgetreten ist. Damals versuchten die Europäer, den Aggressor mit Zugeständnissen zu besänftigen, und das Ergebnis ist allgemein bekannt. Die Ukraine ist ein Land, an dem Putin ein Exempel statuieren wollte. Bislang ist dieser Versuch gescheitert.
Weshalb ist die Ukraine, trotz der vom Krieg verursachten Opfer und Zerstörung, nicht bereit, einen Teil ihrer Territorien abzugeben, in denen historisch viele ethnische Russen gelebt haben?
Das Problem liegt nicht in den Territorien, sondern in den Bedingungen für die Schaffung eines beständigen Friedens. Wenn Russland jetzt einen „Erfolg“ erzielen und einen Teil der Ukraine annektieren kann, dann wird dies zur Rechtfertigung des Krieges für die russische Bevölkerung, zu einem Beweis dafür, dass der Krieg erfolgreich war, da die Russische Föderation an Territorium gewonnen hat, etc. Egal, unter welchen Bedingungen ein solcher Frieden geschlossen wird, würde Russland nach einer kurzen Periode des Waffenstillstands einen Vorwand finden, um die nächste Etappe des Krieges zu beginnen – und zwar nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Moldawien und den baltischen Staaten. Die einzige Möglichkeit, den Krieg langfristig zu verhindern, ist, zu demonstrieren, dass Russland nicht das gewünschte Resultat erzielen kann. Die Mehrheit der Experten ist sich einig, dass ein Scheitern der „Spezialoperation“ und Wiederherstellung der Vorkriegssituation in der
Ukraine wahrscheinlich zu einem Regimewechsel und damit einer Demilitarisierung Russlands führen wird. Erst dann kann in Europa wieder ein sicherer Frieden einkehren.
Im Augenblick zerstört der Krieg ganze Städte, Millionen von Menschen sind geflohen, und weitere Millionen werden dies tun müssen, wenn der Krieg nicht beendet wird. Wäre es nicht besser, die Territorien, die Russland verlangt, ohne einen Kampf abzugeben?
Der Verlauf des Krieges hat gezeigt, dass die Besetzung durch Russland mehr ist als bloß der Wechsel der Fahne auf dem Dach des Stadthauses. Überall erfährt die friedliche Bevölkerung massive Repressionen. Die oft in Medien genannten Tragödien von Butscha oder Irpin sind nur Beispiele, die deutlich zeigen womit wir zu tun haben. Jede Siedlung, die der Russischen Föderation „überlassen“ wird, bedeutet hunderte oder tausende Menschen, die in Lagern ihre Loyalität an die neue Regierung demonstrieren, oder schwerwiegende Konsequenzen fürchten müssen. Allein in Kherson war im Laufe der letzten drei Monate das
Verschwindenlassen von mehr als 1.000 Menschen zu beobachten. Es ist nicht bekannt, ob sie weiterhin in Lagern sind, wo sie der Folter unterzogen werden, oder von den Besetzern ermordet wurden. Unter diesen Bedingungen ist jedes Nachgeben ein Verrat an den eigenen Bürgern, und ein Urteil des unbeschreiblichen Leids für die Zivilbevölkerung. Die heutige Russische Föderation verhehlt nicht ihr Selbstverständnis als Fortsetzung der UdSSR.
Diese hatte hingegen ein sehr gut dokumentiertes Vorgehensschema in besetzten Gebieten: Erschießungen sowie Deportationen in Lager. Dies war 1939 in Polen der Fall, ebenso wie 1941 in den baltischen Staaten, und in der Westukraine nach ihrer Besetzung durch die Rote Armee – sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg.
Welchen Sinn hat es, die Ukraine zu unterstützen, wenn Russland schlussendlich sowieso siegt, zumal es mehr Waffen und Ressourcen für die Kriegsführung hat?
Es ist wahr, dass die Russische Föderation sehr viele Waffen besitzt, die sie noch aus UdSSR-Zeiten erhalten hat, sie hat aber schwerwiegende Probleme bei der Mobilisierung ihrer Soldaten. Schon heute werden Polizeieinheiten an der Front eingesetzt, die in keinerlei Form für den Krieg ausgebildet sind. Und je länger die Ukraine Widerstand leisten kann, desto schwieriger wird es für Russland, die Verluste an der Front zu kompensieren.
Dasselbe gilt für die Produktion von militärischem Gerät. Dank der bestehenden Sanktionen sind die russischen Versorgungslinien deutlich angespannt, und die Produktion von Ausrüstung ist in vielen Fällen eingestellt. Darunter leidet die Militärindustrie. Selbst Russland hat nur eine begrenzte Menge an Ressourcen. Bislang ist seine Wirtschaft trotz der Sanktionen nicht am Ende und die Bevölkerung ist keinen schweren Einschränkungen ausgesetzt. Im Herbst wird allerdings auch die Mehrheit der Russen die Konsequenzen des Krieges spüren, was Proteste gegen den Krieg befeuern wird.
Der Widerstand der Ukraine schwächt Russland, und raubt ihm die Möglichkeit, auch andere Staaten zu bedrohen.
Wie kam es in der Ukraine zu dieser Situation?
Bis 1994 war die Ukraine eine Atommacht, die ihrem Potenzial nach nur den Vereinigten Staaten und der Russischen Föderation nachstand. Unser Land verzichtete freiwillig auf Atomwaffen im Austausch für Garantien der territorialen Integrität und Sicherheit, die die Vereinigten Staaten, Großbritannien und die Russische Föderation gewährleisten sollten.
Als 2008 der Krieg zwischen Russland und Georgien stattfand, beantragte die Ukraine den Beitritt zur NATO. Alle beteiligten Länder stimmten zu, nur Deutschland legte sein Veto ein, um die „besondere Beziehung“ zur Russischen Föderation nicht zu verderben. Vielleicht ist dies ein Zufall, aber in dem Moment wurden Verhandlungen über die Gaspipeline Nord-Stream 1 aktiv geführt.
Bereits 2014, während der Aggression der Russischen Föderation, wurde klar, dass niemand seinen Verpflichtungen nachkommen würde. Russland hat die Ukraine bereits 2014 angegriffen, das ist eine rechtlich bestätigte Tatsache, und Großbritannien und die USA sind, anstatt die Ukraine zu schützen, mit symbolischen Sanktionen davongekommen.
Natürlich war die Ukraine angesichts der Aggression der Russischen Föderation und des Mangels an wirklicher Unterstützung durch die NATO gezwungen, eine Armee von Null auf aufzubauen. Das war sehr schwierig, aber viel konnte erreicht werden. Doch Mitte des letzten Jahres, als Putin seine Ansprüche öffentlich kundgab, gab es praktisch keine ausländischen Waffen in der Ukraine.
Warum sollte sich Deutschland trotz wirtschaftlicher Schäden von russischem Öl und Gas lossagen, um die Ukraine zu unterstützen?
Russland bedroht nicht nur die Ukraine. Machthaber in Russland, allen voran Putin, sprechen offen darüber, dass sie eine Wiederherstellung der Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges anstreben, in der sich die UdSSR frei in die Belange aller osteuropäischen Staaten und sogar Ostdeutschlands einmischen konnte.
In den russischen staatlichen Medien kursieren täglich Diskussionsthemen wie ein
Raketenschlag gegen Berlin, der Abwurf einer Atombombe über der Nordsee, oder die Detonation von Atomwaffen in einem U-Boot vor der Küste Großbritanniens, um eine Flut gegen London auszulösen. All diese Handlungen werden als prophylaktisch bezeichnet, also nicht als Kriegsakte, sondern lediglich als Mittel, um Europa von der weiteren Unterstützung der Ukraine abzuhalten.
Die wirtschaftlichen Schäden durch eine Aufrechterhaltung der Sanktionen sind
verschwindend gering im Vergleich mit den Konsequenzen eines Szenarios, wo Russland in Europa freie Hand hat.
In Deutschland leiden unter der Inflation vor allem Geringverdiener, die nur mit Mühe über die Runden kommen. Ist es fair, dass sie dafür leiden müssen, dass Russland einen Krieg begonnen hat?
Die Bundesregierung plant Ausgaben in Höhe von ca. 15 Milliarden Euro, um die
ausfallenden Gaslieferungen aus Russland zu ersetzen. Mag sein, dass sich der Betrag im Laufe der Zeit verdoppelt. Das ist zweifellos viel Geld, sollte aber in Relation gesehen werden. Während der Wirtschaftskrise 2009 kostete allein die Rettung der Bank Hypo Real Estate 20 Milliarden Euro, insgesamt mussten die deutschen Steuerzahler 70 Milliarden Euro einbüßen. In anderen Worten ist die Energieversorgung ein lösbares Problem und die Regierung kann die Folgen der Energiekrise für die breite Bevölkerung abfedern.
Die langfristige Umstellung der Wirtschaft auf Kriegsbereitschaft, die im Falle einer Niederlage der Ukraine nötig wäre, wäre hingegen deutlich kostspieliger, und zwar für Alle in Deutschland.
Verstehen Sie, warum Deutschland sich bis zum letzten Moment geweigert hat, Waffen an die Russische Föderation zu liefern?
Mir ist klar, was genau die Deutschen nicht berücksichtigen. Hier sagt man üblicherweise, dass das Nazideutschland von Russland besiegt wurde und Russland dementsprechend viel Schaden von diesem Krieg davontrug. Aber tatsächlich litt die Ukraine viel mehr unter den Nazis als Russland. Ukrainische und russische Soldaten kämpften gemeinsam gegen Deutschland. Aber im Gegensatz zur Russischen Föderation war das gesamte Territorium
der Ukraine besetzt, und es waren die Einwohner der Ukraine, zusammen mit den
Einwohnern von Belarus, die die ganze Grausamkeit der Nazis zu spüren bekamen. In der Ukraine fanden die massivsten jüdischen Hinrichtungen statt, aus der Ukraine wurden junge Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Mit anderen Worten maßte sich die Russische Föderation die Ehre des Siegers über die Nazis an, obwohl sich alle Völker der Sowjetunion am Krieg beteiligten und das ukrainische und belarussische Volk den meisten Schaden davontrugen. Und Deutschland sollte gegenüber der Ukraine, die im Krieg am meisten gelitten hat, eine besondere Haltung einnehmen.
Was erlaubt Putin, über die Notwendigkeit einer „Entnazifizierung“ der Ukraine zu
sprechen?
Gar nichts. Das ist wichtig zu verstehen. In der Ukraine gibt es WENIGER Neonazis als in Russland selbst. Dies ist eine Tatsache, die jeder Experte bestätigen wird.
Es gibt nationalistische Parteien in der Ukraine, ähnlich der Front National (Marine Le Pen) oder der AFD in Deutschland. Im vorherigen Parlament der Ukraine hatten sie 12 von 450 Sitzen. Im aktuellen Parlament gibt es überhaupt keine Abgeordneten dieser Fraktionen. Darüber hinaus gibt es keine Vertreter dieser Fraktionen in der Regierung der Ukraine.
Was hat Deutschland damit zu tun? Warum müssen wir die Ukraine jetzt verteidigen?
Ausgerechnet in Deutschland wurde die Formel „Wandel durch Handel“ geboren. Die Idee war, den Grad der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen Russland und Europa durch den Handel so weit zu steigern, dass ein Krieg unmöglich wäre. Die Idee war gut, und sie schien zunächst zu funktionieren: Die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland entwickelten sich so gut und so tief, dass eine militärische Konfrontation undenkbar war.
Selbstverständlich haben auch andere Staaten zum wirtschaftlichen Erstarken Russlands beigetragen, aber Deutschland war der am meisten begünstigte Staat bei der wirtschaftlichen Partnerschaft zwischen der EU und Russland in den letzten 20 Jahren. Es hat all diese Jahre daran verdient, dass es Rohstoffe günstig aus Russland beziehen und dann weiterverarbeiten konnte. Allein im Bereich der chemischen Industrie wurden auf diese Weise hunderttausende Arbeitsplätze geschaffen. Russland seinerseits hat das erhaltene Geld genutzt, um neue militärische Ausrüstung zu schaffen, mit denen es nun die ganze Welt, aber in erster Linie seine europäischen Nachbarn und Deutschland, bedroht.
Diese Zusammenarbeit ging sogar nach dem Georgienkrieg 2008 weiter, obwohl schon da klar wurde, dass Russland zu einem aggressiven Staat wurde. Fast alle NATO-Mitglieder waren damals mit der Aufnahme der Ukraine ins Bündnis einverstanden, und nur Deutschland und Frankreich legten ein Veto ein, um nicht die „besondere Beziehung“ mit der Russischen Föderation zu gefährden. Vielleicht ist dies ein Zufall, aber in dem Moment wurde an der Erschaffung der Gaspipeline Nord-Stream 1 aktiv gearbeitet, einem der Schlüsselprojekte der „Wandel durch Handel“-Idee. Wenn Deutschland dem NATO-Beitritt der Ukraine nicht widersprochen hätte, hätte es weder die Krim noch den Donbass gegeben, und vor allem gäbe es den aktuellen Krieg nicht, der ganz Europa an den Rand des
Überlebens gebracht hat.
Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass das Putin-Regime ohne Krieg nicht mehr leben kann. Durch nichts anderes wird es die russischen Bürger davon ablenken können, wie sich ihr Leben verschlechtert hat. Und deshalb kommen nach der Ukraine die baltischen Länder und Polen dran. Dies sind NATO-Mitgliedsländer, und Deutschland muss dann nicht nur Waffen liefern, sondern auch seine Soldaten schicken. So hat es der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr General a. D. Klaus Naumann in einem Interview am 24.03.2022 für ntv
formuliert: „Was in der Ukraine geschieht ist etwas, was uns (Deutschland) ganz unmittelbar angeht, behält Putin dort die Oberhand, dann ist es sicher, dass er weiter ausgleiten wird.
Insofern sind wir alle angegriffen, auch wenn es im Moment nur die Ukraine ist. Und wir müssen uns darauf einstellen, dass das lange dauern wird und wir dann auch bereit sein müssen, Opfer und Entbehrungen hinnehmen zu müssen, die über das hinausgehen, was wir bisher hinnehmen mussten.
Deshalb ist es besser, der Ukraine jetzt zu helfen und dadurch dem Putin-Regime das Rückgrat zu brechen, als später um die deutschen Soldaten zu trauern.
Was kann man jetzt tun, um die Zahl der Opfer zu reduzieren?
Hierfür sind notwendig: Umfassende Waffenlieferungen mit moderner Ausrüstung, die es der Ukraine ermöglichen, Widerstand gegen die Aggression Russlands zu leisten.